1598 kam es zum großen Teil unter den Safawiden in iranischen Besitz. Seit 1748 jedoch beherrschten es stets die paschtunischen Emire aus der Dynastie der Nachkommen von Ahmad Schah Durrani, die zahlreiche berühmte Mitglieder der königlichen Familie Afghanistans stellte. Aber auch bekannte Kaufleute, Bürokraten, Händler und Angestellte, die ihren starken persischen Einfluß nie verleugnet hatten und die dennoch ein ehrenwerter und würdiger Stamm waren.
Aber bereits 1884 streckte der gierige Vater des später ermordeten letzten russischen Zaren Nikolaus, seine Hand nach dem Lande Chorasan aus, in dem sich zu dieser Zeit die Völker, ihr Wissen, ihre Traditionen, ihre Ehrbegriffe und ihre Leidenschaften und Kulturen miteinander mischten, wie die Sandkörner in der Ebene und wie das Geröll der Flüsse im Frühjahr nach der Schneeschmelze.
Die Paschtunen aber, sie blieben Muslime. Wie schon seit je her. Und besonders jene unter ihnen, welche der hanafitischen Richtung anhingen, die eine der vier großen Madhahib, der Rechtsschulen des sunnitischen Islams darstellte, befolgten stets den Ehrenkodex des Paschtunwali.
Das Paschtunwali, das ist nicht weniger, als die Summe ihrer überlieferten Stammesgesetze, wie sie nicht nur ideell, religiös und kulturell von essentieller Bedeutung ist, sondern auch, nach dem Glauben der hanafitischen Paschtunen, eine regelrechte Schutzfunktion im täglichen Leben ausübt. Eine Schutzfunktion, die sich auf de Familie, auf den Stamm, auf die gesamte Nation und vor allem auf die Ehre des Einzelnen und der Gemeinschaft erstreckt.
Paschtunwali, Paschtu oder Afghanyat: Das ist die uralte und bereits vorislamische Summe jener Traditionen und Gebräuche, die seit der Antike vieles vom einzelnen Stammesmitglied verlangen. Dazu gehört die Vergeltung, der Badal, wie sie es nennen. Der Badal, der für Austausch steht. Für den Austausch nach einer Kränkung, was nicht zwingend die Tötung eines Widersachers bedeutet, sondern auch für Austausch oder Wiedergutmachung steht, die ebenso gut in Gestalt von Geld, von Waren oder von Heirat erfolgen kann.
Dazu gehört die Gastfreundschaft, die Melmastya, die im Paschtunischen über allen Werten rangiert. Die Melmastya schließt das uralte Asylrecht ebenso in sich ein, wie den Nanawati, den Einlass oder die Vergebung. Absolut jedem und damit auch dem ärgsten Feind, muss der Nanawati gewährt werden. So schreibt es das Paschtunwali vor.
Wer den Nanawati einem Anderen gewährt, der gilt sogleich als Ghairatman oder Nanyalay, als Edelmann. Wer den Nanawati jedoch nicht gewährt, gilt keinesfalls als Edelmann, sondern zieht, im Gegenteil, den Scharm, also die Scham und die Schande, auf sich selbst.
Nang ist die männliche Ehre des Paschtunen, die über Tura, das Schwert, gebietet und die oft nur durch das Schwert selbst zu erzielen ist. Namus hingegen steht für die weibliche Ehre und Unversehrtheit, die mit dem Schwert und der männlichen Ehre verteidigt werden muss.
Namus, die weibliche Ehre, gebietet auch den Schutz der Familie, des privaten Grund und Bodens und des eigenen Hauses. Und wer Tura leistet, dieses alles mit dem Schwert in der Hand mannhaft und unter Missachtung des eigenen Lebens verteidigt, der leistet nicht nur einen Dienst an seiner Familie, sondern an seinem Stamm, ja an der gesamten Nation und damit an der Allgemeinheit der Menschen im Lande Chorasan!
Wann immer der Paschtune sich mit seinesgleichen streitet, so wussten und beschrieben es schon die Vorfahren, geht es dabei meist um die Ursachen aller Zwietracht: um Zan, Zar und Zamin. Also um Frau, um Gold und um Boden.
Doch nicht immer muss dabei zum Schwert gegriffen werden. Ebenso legitim ist es auch, Dschirga, die Versammlung, einzuberufen oder sogar Loya Dschirga, die Große Versammlung. Damit diese zunächst die Gond, also die streitenden Parteien, durch Tiga oder Kana, durch die von Steinen markierte Demarkationslinie, voneinander trenne.
Die Dschirga muss die streitenden Parteien miteinander versöhnen, wobei die Beschlüsse der Dschirga bei Bedarf auch durch die Zalwechi, eine aus insgesamt 40 Männern bestehende Exekutive der Dschirga, mit schierer Gewalt durchgesetzt werden können.
Denn alle Beschlüsse der Dschirga sind de Kano kerscha: Mit dem Stein gezogen und daher allgemein verbindlich.
Und wie in der zweiten Sure des heiligen Korans, offenbart nach der Hidschra, welche heißt Al-Baqara oder die Kuh, geschrieben steht: 2. Dies ist ein vollkommenes Buch; es ist kein Zweifel darin: eine Richtschnur für die Rechtschaffenden; so glauben die Paschtunen seit alters her an den heiligen Koran und an den Kanon von Gesetzen und Verhaltensregeln, wie ihn das Paschtunwali vorschreibt, welches schon da war und für Ordnung und Existenzgarantie unter den Paschtunen sorgte, lange bevor jene bartlosen Männer aus Schottland oder aus Russland kamen und ihnen dasjenige brachten, was sich moderne Gesetzgebung nennt.
Das Paschtunwali aber kennt viele und für den bart- und gottlosen Fremden oft verwirrende Gesetze und Gebräuche. Und wie der heilige Koran selbst mit der Sure beginnt: Trag vor im Namen deines Herrn, der erschaffen hat, so beginnt das Paschtunwali mit dem aller ersten Gesetz, mit der Melmastya. Diese gebietet die Gastfreundschaft und die Bereitschaft zur Erteilung von Asyl gegenüber jedermann ohne Erwartung auch nur der geringsten Art von Gegenleistung. Sie gebietet jedoch noch mehr, denn sie fordert von jedem Paschtunen, so er ein Ehrenmann sein will, seinen Gast unter Einsatz des eigenen Lebens gegen seine Feinde zu verteidigen.
Badal schließlich lautet das zweite Gesetz des Paschtunwali und es steht für das Recht und die Pflicht, an seinen Feinden Rache zu nehmen. Wem auch immer Ungerechtigkeit oder Böses widerfahren ist, dem fällt das Recht zu, Rache zu nehmen oder im Tausch für das erlittene Unrecht entschädigt zu werden.
Nanawatay aber lautet das dritte Gesetz des Paschtunwali. Und es steht wortwörtlich für das Hineingehen eines Besiegten in das Haus des Siegers, um dort um Vergebung zu bitten. Stets kann Nanawatay durch einen Besiegten eingefordert werden. Nur dann nicht, wenn eine Frau entweder entehrt oder aber verletzt wurde.
Nang oder Ehre, dies ist das vierte Gesetz des Paschtunwali und es schließt die zahlreichen nun folgenden Punkte ein, welche einzeln und in ihrer Gesamtheit die Ehre des Paschtunen und gleichzeitig die Ehre seiner Familie ausmachen.
Tor oder Schwarz gehört zur Ehre und beschreibt damit alles, was mit der Ehre der Frau des Paschtunen zusammen hängt. Tor oder Schwarz kann stets nur durch Spin oder Weiß abgewaschen werden, was immer für den Tod des Verursachers steht.
Tarboor oder Cousin steht in den Ehrbegriffen der Paschtunen für den Sohn des Bruders des Vaters, mit dem oft eine Feindschaft oder Rivalität besteht.
Jirga ist die Versammlung der Stammesältesten der Paschtunen. Sie tagt zu den verschiedenen Gelegenheiten oder sie wird einberufen, um Dispute zu führen und Streitigkeiten zu klären.
Laschkar jedoch ist die Stammesarmee der Jirga. Sie setzt sämtliche Entscheidungen der Jirga wenn notwendig mit Gewalt um.
Zalwesti steht für 40, denn die Jirga hat entschieden, dass jeder 40. Mann einer Stammesgemeinschaft ihr Mitglied zu sein hat. Neben Zalwesti existiert schließlich auch der Begriff des Kurram. Dieser steht für 20, denn die Jirga kann auch befinden, dass jeder 20. Mann einer Stammesgemeinschaft ihr Mitglied zu sein hat.
Teega oder Kanrei steht für den Stein. Dies ist ein festes Datum, zu dem sämtliche Feindseligkeiten innerhalb eines Paschtunenstammes unterbrochen sein müssen und ruhen.
Nikkat steht für Großvater und beschreibt den Rechtsgrundsatz, wonach sämtliche Profite und Verluste gleichermaßen gerecht unter sämtlichen Mitgliedern eines Paschtunenstammes verteilt werden müssen. Jede Generation schreibt diesen Verteilungsschlüssel für sich fest, was oft für Außenstehende des Stammes den Eindruck größter Ungerechtigkeit erwecken kann.
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