„Pass mal auf, mein Mädchen. Ich bin deine beste Freundin und die sind auch dazu da, Unangenehmes zu sagen. Das wissen wir beide doch.“
Sie sah prüfend in Johannas abweisendes Gesicht.
„Fehlt nur noch, dass du altes Mädchen sagst…“
Evi nickte ergeben und wusste Bescheid: Paul!
„Nenn mir fünf Gründe, warum du in der Wohnung bleiben willst und ich sag dir fünf, warum nicht.“
„Lass den Blödsinn“.
Johanna setzte sich zu ihr.
„Sag schon“, drängte Evi, „sag mir fünf oder drei oder einen.“
Johanna zuckte die Achseln.
„Es ist mein Zuhause. Und dann die Möbel, die Sachen, wo soll das alles hin. Ich kann doch nicht alles wegschmeißen. Oder mich gleich dazu“, sagte sie trostlos.
Evi legte ihr den Arm um die Schultern und sie schwiegen ein Weilchen.
Dann erhob sich Johanna und straffte sich und sie betraten wortlos das weiße Haus.
Die Wohnung lag im ersten Stock, die Treppe dorthin war gefliest und ungewöhnlich steil.
Eine junge Frau öffnete und hinter ihr stand ein kleiner pausbäckiger Junge mit einem Dackel auf dem Arm.
Johanna war der Freundin plötzlich dankbar, die da für sie sprach und regelte. Irgendwie ging alles an ihr vorbei, ging sie nichts an, was da verhandelt wurde. Sie sah in den Flur und bemerkte ungenau, dass er ziemlich breit und gut geschnitten war, eher einer Diele ähnelte, von der die Zimmer abzugehen schienen. Das war angenehm.
„Und wollen Sie sich die Räume ansehen?“, fragte die junge Frau.
Räume!, dachte Johanna, wozu, doch sie wollte nicht unhöflich sein und betrat die Zimmer, besichtigte den Balkon und alles, was man ihr sonst noch vorführte.
„Schön“, sagte Johanna, „aber sehr klein“.
Die junge Frau nickte.
„Deshalb müssen wir hier auch raus, und es wäre wunderbar, wir dürften uns ihre Wohnung anschauen.“
Schon hatte sie die Absage auf der Zunge, da nahm sie den Baum war vor dem Balkon. Eine große Eiche, schwer, gerade gewachsen und stark.
„Was für ein schöner Baum“, sagte sie leise.
Die junge Frau nickte.
„Das Schmuckstück der Straße und mit ihm haben die Jahreszeiten ihr ganz eigenes Gesicht. Deshalb haben wir auch die Bank dazu gestellt. Sie haben vorhin dort gesessen, nicht wahr?“
Die dicken belaubten Äste breiteten sich über die Straße und irgendwann würden sie wohl auch den kleinen Balkon erreichen.
Evi stellte sich dicht hinter die Freundin.
„Es ist gut so“, sagte sie leise.
Sie vereinbarten einen Zeitpunkt, um Johannas Wohnung anzuschauen.
Später gingen sie schweigend die Straße hinunter.
„Es ist, wie es ist“, sagte Evi, „und es wird nicht besser, aber man kann sich das Leben auch in unserem Alter wenigstens noch anders vorstellen.“
Sie blieb nachdenklich vor einem Plakat stehen. Ein weißhaariges, sehr schlankes Paar blickte munter und faltenfrei auf sie herunter.
„Meinen die wirklich uns?“, fragte Evi feixend, „muss man sich das alles wirklich noch antun?“
Johanna schüttelte den Kopf.
„Nicht wirklich, wir sind die XL-Größen mit der nötigen Kaufkraft. Aber wir wären es noch gern, oder?“
Sie sah die allerbeste Freundin prüfend an.
„Vielleicht nicht gerade jung, aber jünger, nicht gerade dünn aber schlanker. Eben noch sichtbar für die Welt.“
Evi sah sie erstaunt an.
„Solche Gedanken in deinem grauen Köpfchen?“
Johanna seufzte gekünstelt auf.
Die Freundin nahm sie beim Arm und steuerte auf ein Café zu.
„Du wirst mir noch mit einem wilden Kerl durchbrennen, wenn ich nicht aufpasse.“
Johanna sah sie lächelnd an.
„Was sonst sollte ich in der Zwei-Loch-Wohnung tun?“
Die Dinge entwickelten sich wider Erwarten schmerzärmer als erwartet.
Was in die „Löcher“ hineinging, nahm sie mit, den Rest ließ sie zum Vergnügen ihrer Nachmieter stehen.
Den erwarteten Heulkrampf brachte das Zimmer mit der Modelleisenbahn.
„Das glaub ich nun nicht“, stöhnte Evi. „Gerade dieses Zimmer! Wieso denn eigentlich? Wer hat denn hier gezetert und gedroht, den ganzen Mist eines schönen Tages, wenn Paul auf Schneewache ist, aus dem Fenster zu schmeißen.“
Johanna sah sie aus verheulten Augen an.
„Das ist es ja gerade. Versteh doch mal. Ich hab’s doch nicht getan.“
Evi sah sie ratlos an.
Die Schneewache der Eisenbahner! Sie galt den Weichen, die nicht einfrieren durften und waren zugleich jene wunderbaren Nächte unter Männern, mit heißem Glühwein und großem Verständnis füreinander.
Von solch einer Schneewache brachte Paul eine kleine dicke Holzfrau mit. Rotrockig, pausbäckig, saß sie auf einem Holzstumpf und sah blauäugig in die Gegend. Paul hatte ihr einen Platz neben der Bahnschranke zugewiesen und sie Johanna genannt.
„Sie sieht dir doch verdammt ähnlich“, hatte Paul feixend gesagt und keine weiteren Erklärungen von sich gegeben.
Johanna hatte auch nicht weiter nachgefragt, aber sie betrat seither nie mehr das „Eisenbahnzimmer“ und widerstand allen Putzgelüsten, auch wenn sich allmählich Spinnweben über die Hügel und Häuser legten, was auch den farbigen Triebwagen verblassen ließ. Von der rotrockigen Holzfrau ganz zu schweigen.
Paul nahm eines Tages Besen und Lappen und verzog sich demonstrativ ins Zimmer und sie hörte ihn bald poltern und schimpfen.
Das war allemal eine Genugtuung, auch wenn sie sich ein wenig lächerlich dabei vorkam.
Johanna putzte sich die Nase, nahm die dicke Holzfrau von ihrem Platz an der Schranke hoch und steckte sie in die Tasche.
„So“, sagte sie zu Evi. „Nun sollen die Kinder das denn auch haben. Der Dackeljunge wird sich freuen.“
Sie ging energisch zur Wohnungstür und öffnete sie weit.
Die Weihnachtsgeschenke lagen ungeöffnet herum.Sie hatte keinen Weihnachtsbaum. Ein fremde kühne Entscheidung, die sie für sich getroffen hatte, unsicher und in Erwartung der Katastrophe, die möglicherweise über sie hereinbrechen könnte. Neben Paul waren Entscheidungen immer leicht gewesen. Ohne ihn wurde sie zaghaft vor sich selbst. Evi hatte mehr als erstaunt geguckt.
„Und da brichst du nicht zusammen, so gegen 20 Uhr am Heiligabend?“ Sie sog zweifelnd an ihrer Zigarette.
Johanna nickt, unsicher, tapfer, ängstlich, entschlossen.
„Und die Nachkommen? Keines da? Zu keinem hingehen? Oder tauchen sie auf?“
„Nein, niemand – oder noch mal kurz zu Lilli…“
Evi winkte ab.
„Komm einfach zu mir; wir essen ein nettes Abendbrot, gucken uns die leidige Weihnachtsgeschichte an, prüfen unsere Bibelfestigkeit – ich kann mir nicht helfen, Weihnachten hört auf, wenn die Kinder wissen, was die Geschenke, die sie sich gewünscht haben, kosten und anschließend zur Party um den Block ziehen.“
Sie holte sich ihren Mantel, suchte nach den Autoschlüsseln und betrachtete ihre verloren dasitzende Freundin.
„Alte Glucke. Zerfließ nicht in Selbstmitleid und korrigier dein Hoffnungsverhalten.“
Die Tür fiel leise hinter ihr zu. Evi war bei aller Korpulenz eine leise und leichte Person. Das hatte Johanna schon immer gefallen.
Sie kannten einander lange, eine Kindergartenfreundschaft, wie Johanna es gern nannte. Es gab gemeinsame Jahrzehnte aber auch Jahre, da hatte es sie auseinandergedriftet. Später, nach Pauls Tod, bedurfte es keiner weiteren Erklärung. Es waltete wieder die Kindergartenfreundschaft, verlässlicher denn je.
Es war kein Weihnachten, es war eine Mutprobe.
Johanna steckte Tannenzweige in die alte Bodenvase, die immer noch undicht war, stellte ergeben einen Teller drunter und fand nirgendwo den Karton mit dem Weihnachtsbaumschmuck.
Wahrscheinlich hatte sie ihn beim Umzug in der alten Wohnung stehen lassen. Dafür fand sie den Kasten mit hölzernen Ostereiern und hing diese an.
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