Um viertel vor vier war er schon am Surfer-Strand. Viele junge Männer waren da und machten ein paar gymnastische Übungen, einige, um sich warm zu machen für den Ritt auf den Wellen, andere, um ihren muskulösen Körper zur Geltung zu bringen, immer mit einem Seitenblick auf die Mädchen, die in Grüppchen zusammenlagen und ihrerseits ihre schönen Körper zur Geltung bringen wollten. Sie rekelten sich in der Sonne und zupften an ihren Mini-Tangas herum. Da durfte nichts verrutschen, denn die Bikinis waren knapp geschnitten, manche sogar sehr knapp.
Aber auch dafür hatte Roberto keinen Blick, er suchte mit den Augen den Mann, der ihm das Surfen beibringen wollte, konnte ihn aber nirgendwo entdecken – nicht am Strand und auch nicht im Wasser, wo gerade einige Surfer auf ihren Brettern hinaus paddelten, „ihrer Welle“ entgegen.
Es wurde vier Uhr, dann viertel nach vier, halb fünf, der Mann war nicht zu entdecken und blieb verschwunden. Roberto war tief enttäuscht, ging am Strand auf und ab und beobachtete die Surfer im Wasser. 200 bis 300 Meter vor dem Strand paddelten sie im Wasser und warteten auf eine geeignete Welle.
Ein Surfer – eine Welle, hieß die Regel, an die sich alle hielten, denn es wäre viel zu gefährlich, zu zweit auf einer Welle zu reiten, man konnte zu leicht zusammenstoßen oder sich gegenseitig behindern. Der Spaß war ja gerade, hin und her zu wedeln und das Gefühl zu genießen, der Herr der Welle zu sein.
Hier in Ipanema waren die Wellen nicht so hoch wie manchmal vor Hawai, wo manche Surfer auf Monster-Wellen reiten, die fast 7 Meter hoch sind und die den Wagemutigen geradezu erschlagen wollen mit ihren überstürzenden Wellenkämmen von Tausenden von Kilogramm Wasser.
Die besten Surfer schaffen es immer noch so gerade, unter den stürzenden Wassermassen hinwegzugleiten, und für manche ist gerade das der Nervenkitzel, den sie suchen. Aber manchmal gibt es auch schreckliche Unfälle - dann packen die Wasserpranken den Unglücklichen, wirbeln ihn herum und schlagen ihm sein Brett im wahrsten Sinne des Wortes um die Ohren.
Um 19:43 Uhr ging die Sonne unter und der Strand leerte sich, die Menschen gingen in die Bars, Restaurants und Apartments von Ipanema oder in ihre Behausungen in der Favela Rocinha.
Roberto schlenderte missmutig durch die Straßen. Der Mann hatte sich also doch nur einen Scherz mit ihm erlaubt: Blöder Kerl!
Er bog um eine Straßenecke und da kam der Mann ihm direkt entgegen und auf ihn zu: „Es tut mir leid wegen unserer Verabredung“, sagte er, „aber ich musste heute länger arbeiten, mein Kollege hatte einen Unfall und ich musste für ihn einspringen.“
Er streckte Roberto die Hand entgegen: „Ich heiße Paulo, und Du?“
Roberto sagte seinen Namen und war sofort wieder guter Laune.
„Ich arbeite hier in dem Sportgeschäft“, sagte Paulo und zeigte auf ein hell erleuchtetes Schaufenster, in dem alle möglichen Sportartikel zu sehen waren – Surfbretter, Taucheranzüge,
Harpunen, Sauerstoffflaschen und vieles mehr.
„Du kannst morgen direkt hierhin kommen. Ich hoffe, es klappt Morgen mit dem Unterricht.“
Roberto bedankte sich und dann trennten sich ihre Wege wieder. „Bis Morgen.“
Am nächsten Tag stand Roberto pünktlich um vier wieder vor dem Geschäft und breit grinsend kam ihm Paulo entgegen, zwei Surfbretter unter den Armen.
„Hier, mein altes Brett, das leihe ich dir.“
„Danke Paulo, das ist ja toll, vielen Dank!“
Gemeinsam gingen sie zum Strand, jeder sein Brett unter den Arm geklemmt.
Am Strand holte Paulo eine kleine Dose hervor: „Das ist Wachs, damit musst Du das Brett einreiben, damit Du einen guten Halt hast.“
Roberto tat, wie ihm geheißen und rieb das Board mit einem Lappen ein und tatsächlich, die Oberfläche wurde griffig.
„Dieses Band musst Du um deinen Knöchel legen und den Klettverschluss zumachen“, erklärte Paulo, „wenn Du vom Brett fällst, dann kannst Du es wieder zu dir ziehen und herauf krabbeln.“
Paulo zeigte ihm am Strand, wie man auf das Brett krabbelt und dann aufsteht, in den Knien einknickt und mit den Armen die Balance hält.
Sah ganz leicht aus am Strand, aber im Wasser war alles anders, viel, viel wackeliger.
Zwei Dutzend Mal fiel Roberto ins Wasser, bis er endlich stehen konnte und den Trick raushatte.
Paulo gab ihm dabei die richtigen Tipps: „ Beine breiter auseinander, mehr seitlich, tiefer im hinteren Bein, linker Arm nach vorne, den andern nach hinten und im Ellenbogen einknicken“, usw.
Langsam bekam Roberto ein Gefühl für das Brett unter seinen Füßen, und am Ende des Nachmittags schaffte er es, ein paar Meter auf einer schönen Welle zu reiten, bevor er wieder ins Wasser plumpste.
„Sehr schön, Roberto, so schnell wie Du habe ich das nicht gelernt. Du bist ein echtes Naturtalent“,
sagte Paulo, „aber das reicht für heute, sonst erkältest Du dich noch.“
Der Wind war zwar warm und das Wasser hatte etwa 27 Grad, aber auf die Dauer kühlt der Körper doch aus. Sonnenbrand konnte man auch kriegen, aber Roberto war Sonne gewöhnt, seine Haut tiefbraun und auch seine krausen Haare schützten seinen Kopf vor der Sonne, er brauchte keine Baseballkappe wie manche weißen Surfer, höchstens ein Stirnband mit Schirm, um von der Sonne nicht so geblendet zu werden.
Glücklich und stolz kam er wieder an Land: „Du bist ein Naturtalent“ hallte es in seinem Kopf wieder und in seinem Inneren jubelte es: „Ich bin ein Naturtalent, ich bin gut.“
Auf dem Rückweg machten sie noch an einem Imbiss Halt, und Paulo gab eine Riesenportion Pommes mit Ketchup und eine Kokosnuss aus. In die große, grüne Kokosnuss hackte der Verkäufer oben mit einer Machete ein Loch und steckte einen Strohhalm hinein, bevor er jedem eine überreichte.
Die Milch der Kokosnuss schmeckte herrlich nach der Anstrengung und die Pommes waren voll gut, selbst gemacht aus Kartoffeln. Als die Nuss leer war, gaben sie sie an den Verkäufer zurück und der köpfte sie mit einem präzisen Schlag.
Innen war sie schneeweiss und voller Kokosfleisch. Mit seiner Machete schlug der Verkäufer noch einen kleinen Spatel aus dem Deckel und reichte alles zurück. Mit dem Spatel schabten sie die zarte Innenhaut der Nuss ab und aßen sie mit Behagen.
„Das ist gut für den Magen und sehr nahrhaft“, sagte Paulo, „surfen macht hungrig!“
Nach einer Woche konnte Roberto Wellenreiten, nach zwei Wochen konnte er gut surfen, und am Ende des Sommers war er ein Crack auf dem Surfbrett. Er bekam viel Lob von seinem Trainer und viel Anerkennung von seinen Sportkameraden am Strand und wurde selbstbewusster.
Als seine Mutter die Veränderungen bei ihrem Sohn mitbekam und seine Begeisterung spürte, fragte sie so lange nach, bis er ihr alles erzählte. Am nächsten Sonntag packte sie einen schönen Picknick-Korb, nahm seinen jüngeren Bruder Alberto an die Hand und ging mit ihren beiden Söhnen zum Strand. Albertos linkes Bein war seit seiner Geburt vier Zentimeter kürzer als sein rechtes Bein und er hinkte ein wenig. Er konnte nicht so schnell laufen wie die anderen Kinder und hatte deshalb das Fußballspielen aufgegeben. Sein Großvater hatte ihm das Schachspielen beigebracht und von Jahr zu Jahr war er besser geworden. Inzwischen war er ein gleichwertiger Gegenspieler für seinen Großvater und beide spielten oft miteinander.
Alberto und seine Mutter staunten nicht schlecht, als Roberto ihnen Paulo vorstellte und beide anschließend aufs Meer hinaus paddelten, um bald darauf stehend auf einer Welle wieder an den Strand zu kommen. Ein paar Mal wiederholten sie das Spiel, und Paulo zeigte sogar ein paar Kunststücke: Auf einem Bein surfen und Handstand auf dem Brett.
Dann packte Robertos Mutter das gute Essen aus und alle futterten, bis der letzte Krümel vertilgt war: Reis mit Bohnen, Hähnchenkeulen und frisches Weißbrot. Zum krönenden Abschluss gab es noch warmen Milchkaffee und selbst gebackenen Kuchen.
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