Eines Tages im November sitzt er in der Klinik an ihrem Bett und sieht ausnahmsweise nicht so traurig aus. Irgendetwas muss ihm eingefallen sein.
„Saskia,“ beginnt er. „Was jetzt kommt, ist etwas ganz Schwieriges. Bist du ganz wach?“
„Natürlich, sag schon!“
„Die Ärzte haben mir im Vertrauen gesagt, dass du wahrscheinlich dieses Weihnachten nicht mehr erleben wirst.“
„Warum sagen sie es mir nicht selbst? Ich möchte doch wissen, wie viele Tage mir noch bleiben.“
„Lass gut sein. Sie meinen es nur gut. Aber ich habe mich inzwischen mit etwas ganz Verrücktem beschäftigt. Vielleicht ist das was für dich.“
„Willst du mich auf die Folter spannen? Au, entschuldige, es sind nur diese blödsinnigen Schmerzen.“
„Hier, nimm die nächste Tablette! Sag mir, wenn es anschlägt.“ Nach einer Weile meint Saskia: „Du kannst jetzt gern reden. Was führst du im Schilde?“
„Ich habe gelesen und es haben mir hier die Ärzte bestätigt, dass man dabei ist, an die genetischen Ursachen von Krankheiten heranzugehen. Jedes Jahr machen sie Fortschritte. In Tierversuchen hat schon vieles geklappt. Aber es dauert ja oft Jahrzehnte, bis sie taugliche Medikamente für den Menschen auf den Markt bringen.“
„Und?“
„Deine fürchterliche Krankheit ist erblich bedingt. Wenn man deine Gene reparieren könnte…“
„Papa, du träumst. Ich bin ja jetzt todkrank und nicht in Jahrzehnten.“
„Klar, du hast zur falschen Zeit diese fürchterliche Krankheit, aber vielleicht kannst du sozusagen eine Zeitreise in die Zukunft machen.“
„Papa jetzt spinnst du wirklich!“
„Saskia, du wirst bald sterben. Du weißt, wie traurig mich das macht. Aber es gibt einen Hoffnungsschimmer für uns beide.“
„Du meinst, wenn wir uns im Himmel begegnen?“
„Viel nüchterner: wenn du dich unmittelbar nach dem Tod einfrieren lässt und wir dich dann wieder auftauen, wenn die Medizin so weit ist.“
„Das meinst du doch nicht im Ernst!“
„ Aufgetaute Embryonen haben schon wunderbare Menschen gegeben. Und man hat vor kurzem einen Weg gefunden, die sogenannte Vitrifikation, die es möglich machen soll, dass das Körpergewebe beim Einfrieren nicht so beschädigt wird. Auch hier arbeitet man mit Hochdruck dran, die Schäden beim Einfrieren zu verringern.“
„Was sagt Mama denn dazu?“
„Ich habe sie natürlich nicht eingeweiht. Du weißt ja, wie sie ist.
Vielleicht kann ich dich in 15 oder 20 Jahren auftauen lassen und erlebe, wie du ganz gesund wirst. Das ist die einzige mir verbliebene Hoffnung.“
„Armer Papa“ Dabei richtet sie sich etwas auf und streichelt liebevoll seine Hand.
„Ich kann nichts mehr verlieren. Deshalb bin ich einverstanden,“sagt sie nach einer Pause.
„Dann werde ich mich so bald wir möglich um die Modalitäten kümmern. Das Einfrieren von Menschen ist nämlich in Deutschland verboten. Aber ich habe schon gehört, wie man dieses Verbot umgehen kann. Morgen, spätestens übermorgen sage ich dir Bescheid. Aber sag inzwischen niemand ein Wort darüber.“
Saskia lächelt, als sie ihren Vater sich aufrichten und raschen Schrittes der Tür zustreben sieht. Sie freut sich über sein Augenzwinkern. Wie in alten Zeiten, als sie noch ein Kind war, haben sie jetzt ein Geheimnis miteinander.
Saskia bekommt nicht mehr mit, dass ihr Vater schon Tickets nach Amerika für sich und sie gebucht hat. Er will sie dort in eine Klinik bringen, sie dort sterben lassen und sofort vor Ort ihre Präparation und Einfrierung in einem speziellen Institut veranlassen. Sie weiß nichts davon, mit welcher Mühe und Ausdauer sich ihr Vater Spezialkenntnisse über Kryonik, die Wissenschaft vom Einfrieren von Tieren und Menschen, besorgt hat. Sie erlebt auch nicht mehr die Vorbereitung für die große Millenniumfeier in Hamburg.
Als ihr Vater zwei Tage nach ihrem Gespräch in Eppendorf auftaucht, befindet sie sich bereits in bewusstlosem Zustand in der Intensivstation. Er zögert keinen Moment und leitet sofort ihren Transport mit lebenserhaltenden Infusionen in die USA ein. Alles verläuft nach Plan. Seiner Frau sagt er, dass er einen letzten Heilungsversuch mit Saskia unternehmen will. Wenn sie ihn auf dem Mobiltelefon anzurufen versucht, geht er nicht ran. Immerhin schafft er, es so zu organisieren, dass nur wenige Minuten nach ihrem Ableben die Vorbereitungen für das Einfrieren vorgenommen werden können. Als er das Institut verlässt, ist er einem Zusammenbruch nahe. Er hat tagelang nicht geschlafen und gegessen und schämt sich, seine Frau belogen zu haben. Im Hotel kramt er sich ein paar Kekse aus der Tasche und findet in der Minibar eine Flasche Wasser, die er gierig hinunterspült. Allmählich geht es ihm etwas besser und er setzt sich auf seine Bettkante und grübelt hin und her, was er Yvonne nun sagen soll. Wegen der Zeitverschiebung möchte er sie vor Mitternacht nicht anrufen. Noch bleiben ihm ein paar Stunden, in denen er ganz in Ruhe an seine geliebte Tochter denken kann. Das Gefühl der Hilflosigkeit übermannt ihn wieder. Sie ist tot. Weder die Medizin noch Gebete haben es verhindern können. Ihr Einfrieren ist der einzige Strohhalm, der ihm bleibt. Um nicht verlacht oder in Deutschland juristisch verfolgt zu werden, muss ihre kalte Ruhe sein strenges Geheimnis bleiben. Für lange, vielleicht für immer.
Yvonne würde ihn nie verstehen. Seit Saskia ein kleines Mädchen war, war sie eifersüchtig auf seine zärtliche Liebe zu dem Kind. Er muss ihr die Wahrheit verschweigen, leider. Als er merkt, er wird müde, stellt er sich den Wecker auf 0.30 Uhr und legt sich aufs Ohr. Bald ist er eingeschlafen.
Als der Wecker schrillt, weiß er erst gar nicht, wo er ist. Er tastet nach dem Ausstellknopf und geht langsam ins Bad. Eine Handvoll kalten Wassers im Gesicht hilft ihm weiter. Geradezu bedächtig nimmt er sich nun das Telefon vom Tisch und wählt die häusliche Nummer. Nach dem dritten Klingeln hört er ein unwilliges „Ja“.
„Tut mir leid, wenn ich dich geweckt habe, aber es ist ganz wichtig. Alle Mühe war umsonst. Heute morgen ist Saskia gegen 10.30 gestorben. Sie ist aus dem Koma nicht mehr aufgewacht. Die heilsversprechende Behandlung kam einfach ein paar Tage zu spät. Hallo, hörst du mich?“
„Klar höre ich dich. Du bist wie immer nicht zu überhören. Das arme Kind! Meinst du, sie hat noch Schmerzen gehabt?“
„Mit Sicherheit nicht. Trotzdem ist es entsetzlich!“
„Meinst du für mich nicht? Wenn man seinen Sonnenschein verliert?“
Kurze Zeit wird ihre Stimme brüchig.
Georg bleibt am Apparat, sagt aber nichts.
„Bist du noch dran?“
„Ja, ich muss jetzt nur umschalten auf das Sachliche. Den ganzen Nachmittag habe ich Formalitäten regeln müssen. Saskia hat mir kurz vor ihrer Bewusstlosigkeit in Eppendorf erklärt, man möge ihren Körper verbrennen, wenn es so weit ist. Das habe ich jetzt in die Wege geleitet. In zwei Tagen wird es geschehen. Das Amt hat mir gesagt, dass in zehn Tagen ihre Urne im Ohlsdorfer Friedhof ankommen wird, wenn nichts dazwischen kommt.“
„Ach, verbrannt wird sie. Du hast mir verschwiegen, dass sie das wollte!“
„Wir könnten die Trauerfeier etwa in 14 Tagen ansetzen. Weißt du, welcher Wochentag es ist?“
„Ich glaube Donnerstag. Dann müssen wir wohl auch auf unsere lange geplante Millenniumsfeier verzichten. Wie viele Leute ich dann noch anrufen muss! Und die Trauerfeier soll ich jetzt allein organisieren, während du dir schöne Tage in Amerika machst?“
„Yvonne, von schönen Tagen kann gar keine Rede sein. Wann begreifst du endlich, dass wir gerade ein Kind verloren haben?“ Dabei kann er ein Schluchzen nicht unterdrücken.
„Tschuldige. Sag lieber, wann du kommst.“
„Morgen Abend werde ich in Hamburg sein. Ich rufe dich vom Flughafen aus an, okay?“
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