Ich wuchs bei meinem Vater auf, oder vielmehr bei meinen Großeltern, wobei meine Oma mich nicht besonders gut leiden konnte, und das war wohl noch sehr vorsichtig ausgedrückt. Sie ließ keine Gelegenheit aus, um mich zu ärgern oder mich schlecht dastehen zu lassen. Ich wurde wohl von ihr dafür verantwortlich gemacht, dass die Ehe kaputt ging und meine Schwester darunter zu leiden hatte. Sie lebte bereits schon seit ihrem dritten Lebensjahr bei meinem Großeltern. Obwohl ich damals erst drei Jahre alt war, machte mich meine Oma für diese Dinge verantwortlich. Ich durfte ja auch nur bei meinem Vater leben, weil meine Großeltern zugestimmt hatten, dass sie sich auch um mich kümmern würden. Sie konnten das ja auch schlecht ablehnen, da mein Vater ansonsten sicher nicht bei diesem wirklich hässlichen Spiel mitgemacht hätte.
Was aber noch viel schwerer wog, war die Tatsache, dass er von nun an immer alles mit seinen Eltern abstimmen musste. Nicht dass sie es jemals böse mit ihm gemeint hätten, aber sie wollten nicht noch einmal erleben wie ihr Sohn unglücklich wird. Aber sie taten ihm damit keinen Gefallen.
Irgendwann bekamen meine Großeltern es dann mit, dass mein Vater eine Freundin hatte. Es gab viel Ärger deswegen, und sie sprachen mit ihm darüber und fragten ihn nur, wie er so etwas machen könnte. Er hätte doch Kinder und die seien wichtiger. In dieser Art wurde das ganze Gespräch geführt. Ich verstand das alles nicht, ich war erst ca. zehn Jahre alt, aber ich wusste schon ganz genau, dass er auch das Recht hatte, eine Freundin zu haben. Eigentlich freute ich mich darüber, denn es hätte für mich ja auch eine große Veränderung in manchen Dingen bedeutet, wenn mein Vater jemals wieder mit einer anderen Frau zusammengezogen wäre. Zugegeben, für mich hätte es im Großen und Ganzen nur besser werden können. Vielleicht war auch das der Hauptgrund, warum meine Großeltern so dagegen waren. Meine Schwester unterstützte sie ja auch nach besten Kräften. Das Ende war dies, mein Vater hat sich nie wieder eine Frau genommen. Sie hatten es endgültig geschafft, er hatte nun auch kein Privatleben mehr. Wahrscheinlich war ich damals der Einzige, der es ihm gönnte, ich hatte mich für ihn aufrichtig gefreut. Es war auch die Zeit, in der ich mitbekam, dass er ganz gerne mal ein paar Flaschen Bier trank. Wahrscheinlich wollte er nur seinen Kummer ertränken. Nie wieder eine Partnerin, nie wieder eine eigene Familie, wenn einem Menschen all diese Dinge untersagt werden, wo liegt dann noch der Sinn des Lebens?
Ich habe mich immer gern und viel mit meinem Vater unterhalten, und seine Meinung war mir ein Leben lang immer sehr wichtig gewesen. Was es bedeutet ein ganz normales Leben zu führen, dass weiß man meistens erst dann zu schätzen, wenn es nicht mehr möglich ist. Bis zu jenem schicksalshaften Tag im April 2011 führten auch wir ein ganz normales Leben, und mein Vater war trotz seiner 68 Jahre sehr gut beieinander. Wie in jeder anderen Familie, so gab es auch bei uns Probleme und es ging mal gut und manchmal schlecht. Aber eigentlich hatten wir keinen Grund uns zu beschweren, denn wir mussten keinen Hunger leiden und hatten immer ein Dach über den Kopf.
Mein Vater ist in seinem ganzem Leben niemals zu einem Arzt gegangen, und trotzdem ging es ihm eigentlich immer recht gut. Er war gesund und hatte seinen Blinddarm noch genauso wie seine Mandeln. In seinem gesamten bisherigen Leben hat er niemals eine Spritze bekommen, musste sich keiner Operation unterziehen und hat auch niemals in einem Krankenhaus gelegen. Wie eben schon erwähnt, war er nur sehr selten krank, und wenn dann handelte es sich meistens um eine einfache Erkältung oder eine Magen-Darm-Grippe. Nichts was man nicht auch alleine auskurieren konnte. Niemand aus der Familie versuchte ihn dazu zu bewegen, einen Doktor aufzusuchen, denn wenn jemand dieses Thema ansprach, dann wurde er recht ungehalten. Da es ihm offensichtlich gut ging, und er auch keine Schmerzen hatte, jedenfalls bekamen wir es niemals mit, drängte ihn auch niemand ernsthaft zu einem Arztbesuch. Sicherlich mochte er die Ärzte nicht besonders, denn zu einem Doktor geht man nur, wenn es gar nicht mehr anders geht. In unserer Familie wurden manche Themen eben einfach nur ausgeschwiegen. Niemand sprach vom Tod oder von Krankheiten. Jedenfalls keine ernsthaften Erkrankungen oder dem Tod eines nahen Angehörigen. Erst als Erwachsener befasste ich mich nach und nach mit diesen Dingen. So kannte mein Vater es eben sein Leben lang nicht anders, als das ein Arzt etwas schlechtes ist, etwas was man besser meiden sollte. Aus diesem Grunde sprach er auch niemals über solche Themen. Da wir alle es wussten, redete natürlich auch niemand von uns darüber, denn warum sollten wir ihn böse machen, wenn es ihm doch auch gut ging.
Heute, im Nachhinein betrachtet, bin ich davon überzeugt dass man vieles von dem, was jetzt für uns die harte Realität ist, hätte vermeiden können, wenn wir ihn nur früher zu einem Arztbesuch hätten überreden können. Da er aber über diese Art von Gesprächen sehr schnell böse wurde, versuchten wir es mit der Zeit immer weniger und seltener. Alles schien zu funktionieren, so wie es eben nun mal war. Keiner von uns wollte ihn unnötig aufregen oder ärgern. Mein Vater war für mich immer ein besonderer Mensch, und ich hielt sehr große Stücke auf das, was er sagte. Wie oft habe ich ihn um seine Meinung gebeten. Sicherlich hat er sich niemals in meine Dinge eingemischt, aber alleine nur die Tatsache, dass er mir zuhörte und mich immer genau verstand, war für mich etwas sehr wichtiges. Er wusste genau was ich meine, wenn ich etwas sagte. So wie es eben nur zwischen Vater und Sohn sein kann. Genaugenommen war er nicht nur mein Vater, sondern auch ein sehr guter Freund. Ich wusste immer genau, egal was ich auch tun würde, er lässt mich niemals fallen.
Samstags traf sich die Familie immer zum Spielenachmittag und um Kaffee zu trinken. Alle freuten sich auf diesen Tag. Spätestens jeden zweiten Tag besuchten wir ihn, um ihm Einkäufe zu bringen, oder auch zu putzen, wenn er uns denn ließ. Meine Frau kochte meistens noch eine Portion für ihn mit, den er liebte ihr gutes Essen immer sehr. So war es für ihn genauso wie für uns sehr schön, wenn wir ihn in seiner Wohnung besuchten.
Da er selbst in seinem Leben niemals gern geputzt hatte, war er wohl auch der Meinung, dass wir es sicher nur ungern taten, wenngleich wir ihm auch immer wieder versicherten, dass wir gern bei ihm Saubermachen würden. Es half nicht viel, wir konnten meistens nur sehr wenig bei ihm putzen oder reinigen. Aber viel wahrscheinlicher war wohl die Tatsache, dass wir bei einer gründlichen Reinigung sehr schnell festgestellt hätten, dass er mittlerweile ein sehr starkes Alkoholproblem hatte.
Er gehörte zu den Spiegeltrinkern. Diese Leute betrinken sich nicht und schlafen dann irgendwann ein, sondern sie trinken immer über den gesamten Tag verteilt Alkohol, damit die Promille-grenze immer möglichst eingehalten wird. Das Schlimme daran ist, dass man es diesen Leuten nicht so ansieht. Spiegeltrinker haben überall und in jedem Raum irgendwo Alkohol stehen, und ihre größte Sorge ist, dass der Alkohol mal fehlen könnte. Wir kauften ihm ja auch seine Kiste Bier im Getränkemarkt und brachten sie ihm nach Hause. Es ist ja auch nicht weiter schlimm, wenn jemand, der sein Leben lang gern mal eine Flasche Bier trinkt, als Rentner jeden Tag zwei Flaschen trinkt. Aber dies war nur die Menge, die wir mitbekamen. Er hatte einen eigenen Händler, der ihm jede Woche zwei weitere Kisten lieferte. Somit stieg der Konsum deutlich an, ohne dass es jemand bemerkte. Und ein Spiegeltrinker taumelt und lallt auch nicht. Lediglich an seinem Alkoholatem kann man es riechen. Aber wenn wir nachmittags zu ihm fuhren, dann war es meistens so, dass er ein Glas Bier auf dem Tisch stehen hatte. Wie gesagt, wir kauften ihm ja sein Bier im Getränkemarkt und wussten nichts von den weiteren Kisten.
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