»Hey, mach mal halblang, Viktor. Alles ist gut. Ich werde diese doofe Verhandlung überstehen, echt. Mach dir also keinen Kopf.« Mittlerweile war auch sie aufgestanden, schlüpfte geschmeidig an ihm vorbei und war einfach nur froh, endlich zur Toilette gehen zu können.
Als sie zurückkam, lag er wieder im Bett und blickte ihr ernst entgegen. »So wollte ich den heutigen Tag nun wirklich nicht beginnen, Kleines.«
Nachdem sich Anna zu ihm unter die Decke gekuschelt hatte, gab sie ihm einen süßen Kuss. »Der Mistkerl macht mir keine Angst mehr, das weißt du doch. Ich habe nur nicht mehr davon gesprochen, weil ich uns die Stimmung nicht verderben wollte. Die Zeit ist viel zu kostbar, um sie auch nur mit einem Gedanken an diesen fiesen Typen zu verschwenden.« Sie streckte sich genüsslich aus, bevor sie nach ihrer Brille griff. »Wie spät ist es denn?«
»Wir haben noch massig Zeit. Es ist halb sieben. Die Verhandlung beginnt ja erst nach dem Mittag. Vor ein Uhr brauchen wir nicht dort zu sein. Ein Glück, dass wir für die gleiche Zeit als Zeugen geladen wurden. So bist du also nicht allzu lange allein.«
»Dabei hast du wohl vergessen, dass wir gedanklich so gut wie immer zusammen sein können, mein halbelfischer Superprinz. Manchmal glaube ich, du bist wegen der ganzen Sache nervöser als ich.«
Erneut blickte Viktor ernst drein und zog seine geraden Brauen zusammen, sodass sich eine steile Stirnfalte bildete. »Das waren die schlimmsten Momente meines Lebens, Anna. Du, in den Händen dieses Triebtäters. Nicht zu wissen, wo du bist, und dich nicht zu spüren. Als wir dich endlich gefunden hatten, da dachte ich, du seist …« Mit einem Mal strahlte er nicht nur seine Sonne, sondern eine immense Hitze aus. Sogar ein paar kleine Blitze zuckten durchs Zimmer. »Himmel noch eins, Anna! Ich weiß nicht, ob ich mich zusammenreißen kann, wenn ich ihn sehe. Am liebsten würde ich ihn …«
… Nun sah Anna sich endgültig dazu gezwungen, an diese fürchterliche Sache zu denken. Wobei sie bis heute nicht wusste, was eigentlich schlimmer für sie war:
Der Streit mit Viktor, nach welchem sie ihn ein paar Tage – für sie eine Ewigkeit – nicht gesehen hatte, ja, nicht einmal fühlen konnte, zudem nicht wusste, ob er sie überhaupt noch liebte und wollte. Oder die sich daran anschließende Entführung durch ihren Biologielehrer. Der hatte sie in seine Wohnung verschleppt, um sie zu vergewaltigen und anschließend zu töten. …
Bei der Erinnerung überfiel sie für einen winzigen Augenblick die gleiche ohnmächtige Leere und überwältigende Panik wie damals, als Viktor scheinbar nicht mehr mit ihr zusammen sein wollte. In dieser Sekunde wurde ihr deutlich, wie sehr ihr die Trennung seinerzeit zu schaffen gemacht hatte. Mehr als die Angst, in der Gewalt eines Wahnsinnigen zu sein.
»Der Mann kommt nicht mehr frei, Viktor. Er ist verrückt. Der ist immerhin schon jetzt in der Klapse. Außerdem habe ich noch Glück gehabt. Andere Mädchen hat er schließlich tatsächlich missbraucht.« Dass der Mann allerdings, im Gegensatz zu seinen anderen Opfern, Anna hatte töten wollen, ließ sie lieber außer Acht. »Ihr habt mich davor bewahrt.« Sie strich ihm zärtlich über die Wange. »Es war für uns beide eine schlimme Zeit. Lass uns einfach die Verhandlung hinter uns bringen und danach nicht mehr drüber nachdenken.«
Sie gab ihm einen kleinen Kuss. »Du wirst dich während deiner Aussage im Griff haben, das weiß ich. Das weiß ich, weil du mich liebst. Mach dir deshalb keine Sorgen.« Sie legte sich zurück in seine Arme.
Er streichelte versonnen ihre Schulter. »Es tut mir leid, dass ich damals so mies reagiert und dir derart wehgetan habe.«
»Nicht, Viktor! Wir haben beide dumme Fehler gemacht. Aber das ist vorbei. Lass es uns endlich abhaken. Bitte!«
Viktor seufzte schwer. »Ich kann das nicht einfach abhaken. Mir ist doch klar, wie sehr dich die Sache nach wie vor mitnimmt, auch wenn du es andauernd abstreitest. Ist dir mal aufgefallen, dass du das meistens rein gedanklich tust und selten laut aussprichst?« Er richtete sich auf, um ihr besser in die Augen schauen zu können. »Du hast sogar die Schule gewechselt, weil dich die Erinnerungen nicht losgelassen haben. Nicht nur, weil du dort obendrein gemobbt worden bist.«
»An der neuen Schule fühle ich mich erheblich wohler. Das weißt du. Mir geht‘s gut.«
***
… Allerdings erkannte Anna nicht, dass Viktor sehr wohl gewahr wurde, wie sich ihr Herz bei dem Gedanken an die Zeit an ihrem alten Gymnasium schmerzlich zusammenzog. Offenbar konnte sie sich nie an die Albträume erinnern, die sie regelmäßig heimsuchten und aus denen er sie äußerst behutsam zu befreien versuchte. Das zeigte ihm, wie sehr sie das Ganze bedrückte. Dass diese schlimmen Erinnerungen und Träume zum Großteil auf sein eigenwilliges Verhalten von damals zurückzuführen waren, belastete ihn schwer.
Elfen vermochten Vieles zu vollbringen. Selbst als »nur« halbmenschlicher Elfe konnte Viktor Gedanken erspüren und beeinflussen. Überhaupt waren ihm, aufgrund des Erbes seines machtvollen Vaters, inzwischen viele Dinge möglich: die eigene innere Sonnenwärme spenden; dem Feuer per Geisteskraft zündende Nahrung geben; dem Himmel Blitze stehlen und dem Wetter eine andere Richtung geben. Das waren nur einige der Talente der Elfen. Seine Schwester Viktoria nahm sogar manchmal Visionen aus der Zukunft wahr. – Aber die Zeit zurückdrehen, das ging nun mal nicht. Das konnte nicht einmal sein überaus mächtiger Vater. …
Trotz dieser kurzen verschlossenen Grübeleien legte Viktor sich wieder hin, ließ währenddessen seine Hand unter Annas Achsel hindurchkrabbeln und suchte zielstrebig ihre Brust. »Ich glaube, du solltest mir beim Abhaken dieser ganzen Angelegenheit unbedingt behilflich sein, Kleines.« Er grinste sie verschmitzt an. »Dazu brauche ich jegliche seelische und körperliche Unterstützung, die du mir geben kannst. Das ist sehr, sehr wichtig.«
Wie üblich brauchte er nicht lang, um Anna zum Schmelzen zu bringen. Schon war das Zimmer, wie bereits in der Nacht zuvor, mit seinem Sonnenschein erfüllt, und sie gaben sich gegenseitig das, was sie nun am allermeisten brauchten.
***
Als Lena die Schlossküche betrat, flötete Anna: »Oh, hallo Schwesterherz, schön dich zu sehen.«
Das heitere Lächeln ihrer fast drei Jahre jüngeren Schwester ließ Lena unangenehm berührt und verlegen zur Seite schauen, während sie Hand in Hand mit ihrem sehr großen Freund Sentran, einem von Vitus‘ sechs Elitewachmännern, Richtung Küchentisch ging. Eigentlich hatte sie gehofft, dass um diese Zeit niemand mehr frühstücken würde. Doch war dem nicht so.
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