Er gab ihr einen weiteren Kuss, schob sie danach erneut etwas von sich, um sie eingehend zu betrachten. »Wie geht es dir?«, erkundigte er sich. »Wie war deine Fahrstunde?«
Sein musternder Blick verdeutlichte Anna, dass Viktor mit dieser Frage nicht nur auf den Fahrunterricht abzielte. Eigentlich sorgte er sich eher wegen der am kommenden Montag anstehenden Gerichtsverhandlung. Im Augenblick jedoch konnte und wollte sie nicht darüber nachdenken, schon gar nicht darüber sprechen.
Deshalb nahm sie sein Ablenkungsangebot dankend an und wetterte wild gestikulierend drauf los: »Als wenn du das nicht wüsstest! Du hast doch sicherlich mitbekommen, dass es wieder mal eine Katastrophe war. Frau Simon hat eindeutig mehr Geduld als irgendein anderer Mensch auf dieser Welt, wenn sie das mit mir aushält. Ich an ihrer Stelle wäre schreiend aus dem Auto gestürzt. Die muss Nerven wie Drahtseile haben.«
Mit einem Schmollmund trat sie auf ihn zu, umschlang seine Taille und schmiegte sich an seine Brust. »Ich komme mit diesem ganzen Auto-Zeugs einfach nicht zurecht.«
Er legte tröstend den Arm um sie und schwieg. Sie wusste, dass er, falls überhaupt, einzig auf den Fahrunterricht, nicht aber auf die Verhandlung eingehen würde.
»Heute habe ich dreimal den Scheibenwischer eingeschaltet, als ich blinken wollte«, beklagte sie sich, woraufhin er sich ein leises Lachen nicht verkneifen konnte. »Jaja, mein halbelfischer Prinz, mach dich nur lustig über mich. Du wirst schon sehen, was du davon hast. Von wegen: nächtliche Venusfliegenfalle , he! Wenn du so weitermachst, kannst du das knicken, dann gibt es nichts weiter als ein mickriges Gänseblümchen.«
»Aua! Hey, das war ein Schlag unter die Gürtellinie, Süße.« Sein gespielter Schock wich einem frechen Grinsen. »Ach was, du erschreckst mich damit nicht, denn du schaffst es ja gar nicht, dich mir zu entziehen.« Erneut hob er mit einer Hand ihr Kinn. »Du kannst nämlich deine Finger nicht von mir lassen.«
»Du bist ein richtiger Blödmann.«
»Vielleicht sollte ich dich bei deiner nächsten Fahrstunde doch noch mal unterstützen«, lenkte Viktor sie weiterhin ab.
»Bloß nicht!«, protestierte sie. »Das war schon beim letzten Mal geradezu ein Desaster. Du weißt genau, dass du mich total aus dem Konzept bringst, wenn du versuchst, mich gedanklich zu beeinflussen. Nein, nein, ich muss das selbst schaffen. Ich muss meine Nervosität unbedingt in den Griff kriegen. Vor den Klausuren schaffe ich das ja schließlich auch.«
»Du hast so viel zu tun, Kleines. Die Schule, die Lerngruppe, die nächsten Klausuren, dazu noch die Fahrprüfung.« Den Prozess erwähnte er wohlweißlich nicht. »Da solltest du dir dieses Wochenende mal ein bisschen Ruhe gönnen.« Zärtlich strich er mit dem Mund über ihre Lippen. »Wie wär‘s mit einem königlichen Spa-Wochenende im Schloss. Vitus und Loana würden sich freuen. Sentran will Lena morgen auch abholen.«
»Vitus und Loana sind zurück?« Ihre Stimmung hellte sich merklich auf.
»Na, danke«, erwiderte Viktor gespielt mürrisch. »So fröhlich solltest du nur gucken, wenn du an mich denkst und nicht bei dem Gedanken an meinen Papa und seine frischgebackene Ehefrau.«
»Quatschkopf.« Sie knuffte ihm leicht in die Rippen. »Wie geht es ihnen? Wie geht es Loana? Sieht man schon was?«
»Das wirst du doch bald selbst feststellen können. – Also gut«, fügte er eilig hinzu, als Anna ihre Hände in die Hüften stemmte und ihn aus ihren hellen Saphiraugen auffordernd anblitzte. »In ihr Brautkleid wird sie derzeit definitiv nicht mehr reinpassen. Es ist erstaunlich, wie die Schwangerschaft sie in den letzten drei Wochen verändert hat. Sie trägt eine richtige kleine Kugel vor sich her. Klein und rund.« Viktor wurde nachdenklich. »Vitus ist wieder einmal im Zwiespalt. Einerseits kann er es kaum abwarten, aber dann …«
Er beendete den Satz nicht, schaute verlegen an Anna vorbei und sie wusste weswegen.
… Auch Viktors Mutter, eine Menschenfrau namens Veronika Müller, hatte Zwillinge von Vitus erwartet, war allerdings vor neunzehn Jahren direkt nach der Geburt von Viktor und seiner Schwester Viktoria gestorben. Ob das geschah, weil sie ein Mensch war, oder es einen anderen Grund dafür gab, wusste niemand. Selbst Vitus, der Veronika unendlich liebte, war nicht in der Lage gewesen, ihr zu helfen, obwohl er schon damals mächtige übersinnliche Kräfte besaß.
Veronika war einfach von ihm gegangen und hatte ihn mit seinen beiden Kindern alleingelassen. …
Kein Wunder, dass Viktor, wenn er nun Loana sah, hin und wieder schmerzlich an seine verstorbene Mutter erinnert wurde. Und kein Wunder, dass Vitus ab und zu in Panik geriet, weshalb er es häufig mit seiner Fürsorge gegenüber Loana übertrieb. Die wusste um seine Ängste, weswegen sie diese Fürsorge geduldig zuließ.
Anna legte ihre Wange an Viktors, was nur möglich war, indem sie sich auf die Zehenspitzen stellte und seinen Kopf zu sich herabzog.
»Wir könnten dein Tablet mit ins Schloss nehmen und uns dort ein paar Videos von deiner Mama ansehen. Du hast sie alle digitalisieren lassen, aber immer noch nicht komplett angeschaut. Vielleicht wäre es gut, sie lachen zu sehen«, meinte sie leise.
»Ja, das könnten wir tun.« Nachdem er noch einmal kräftig durchgeatmet hatte, sah er Anna freudestrahlend an. »Komm, Süße, sagen wir deinen Eltern kurz Tschö und hauen dann ab.« Er grinste schon wieder. »Ich kriege das Bild von dir als Venusfalle einfach nicht mehr aus dem Kopf.«
»Venus- fliegen -falle!«
»Meinetwegen.«
***
Weniger als zwei Stunden später saß Viktor gemeinsam mit Anna, Vitus und Loana im kleinen Kaminzimmer des Schlosses. Nicht dass dieses Zimmer wirklich klein war. Nur in Anbetracht manch anderer Räume des riesigen Gemäuers konnte man es als relativ klein bezeichnen. Viktor mochte den Raum. Er fand ihn mit seinen gedämpften Farben, den bequemen Sesseln und hübschen Holztischchen, auf denen man beim Gespräch sein Getränk abstellen konnte, rundherum gemütlich.
Einziger Blickfang neben dem Kamin war ein großes beeindruckendes Gemälde, das direkt über dem weißen Marmor des Kaminsimses prangte:
Es zeigte loderndes Feuer mit züngelnden Flammen inmitten eines wild tosenden Sturmes, das durch die Wahl aller möglichen Rottöne und -schattierungen die immense Macht dieser Naturgewalten ausdrückte. Trotzdem dominierte ein darin verborgenes, dennoch deutlich zu erkennendes Gesicht – Loanas Gesicht, das, ungeachtet der grün-bläulich angelegten Farbwahl, eine ungeheuer wärmende Kraft und Güte ausstrahlte. Wenn man ganz genau hinsah, konnte man in Loanas Pupillen sogar Vitus erkennen.
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