Allerdings war es jetzt im April noch viel zu früh für Sommersehnsucht. Außerdem ließ gerade in diesem Jahr der Frühling lange auf sich warten. Erst seit ein paar Tagen gab es endlich wieder Sonnenschein, nicht gerade viel und nur mäßig warm. Aber immerhin brachte er die Narzissen und Traubenhyazinthen, die Annas Mutter vier Wochen zuvor so liebevoll auf dem Balkon in Kübel gepflanzt hatte, doch noch zum Blühen. Auch die bereits verloren gedachten Vergissmeinnicht, Bellis und Primeln hatten sich aufgrund der wärmenden Sonnenstrahlen erholt und leuchteten wieder in fröhlichen Farben. Niemand aus der Familie hatte mehr damit gerechnet, dass sich überhaupt noch ein Fünkchen Leben in den Blumentrieben regte. Denn der späte Frost hatte selbst das Rheinland, und somit auch den Balkon der in der Nähe von Düsseldorf lebenden Familie Nell, über alle Maßen lang im eisigen Griff gehalten. Eine gefühlte Ewigkeit lang.
Nun stand Anna auf dem Balkon, ließ sich das Gesicht genießerisch von der Sonne bescheinen und dabei ihre Gedanken treiben. Obgleich die Erinnerung an die bittere Kälte und Nässe, die besonders am Tag des kalendarischen Frühlingsbeginns im gesamten Land geherrscht hatten, sie eigentlich frösteln lassen müsste, glitt ein Schmunzeln über ihre Lippen. Sie hatte in gar nicht so großer, dennoch unendlich weiter Entfernung, unter wärmender Frühlingssonne die Hochzeit des Vaters ihres heißgeliebten Freundes Viktor gefeiert. Eine ganz besondere Hochzeit. Eine Hochzeit im Elfenland.
… Am zwanzigsten März, zu Frühlingsbeginn, fand diese Hochzeit des Königs des westlichen Elfenreiches statt. Trotz der frühen Jahreszeit gaben sich Vitus und seine Braut Loana im Schlosspark unter duftig blühenden Kirschbäumen ihre Eheversprechen, wobei ein angenehm laues Frühlingslüftchen wehte.
Allein eine solche königliche Elfenhochzeit gemeinsam mit ihrer Familie mitzuerleben hatte Anna schon aufregend gefunden. Dass sie dann sogar Loana als eine der sechs Brautjungfern begleiten durfte, machte das Ganze für sie zu einem einmaligen, traumhaften Erlebnis. …
Bei dieser Erinnerung seufzte sie, da die Sehnsucht nach Wärme, Sommer, besonders dem speziellen Zauberlicht in ihrem Wald sie nicht losließ.
»Oh Gott, bald ist es ein Jahr her, ein ganzes Jahr! Was für ein wundervolles Jahr!«
Sie schloss selig die Augen.
»Wer hätte gedacht, dass ich mich innerhalb so kurzer Zeit derart verändern könnte? – Vom Mauerblümchen zur Sonnenblume!«
»Du warst niemals ein Mauerblümchen, Anna. Und du bist viel mehr als eine einfache Sonnenblume, meine Süße«, schlich sich Viktor in Annas Geist ein. »Du bist viel, viel mehr! Morgens bist du eine zarte Anemone, die man kaum zu berühren wagt. Dann aber erblühst du zur wilden Rose, mit dezentem Duft. Später erst erscheinst du mir wie eine Sonnenblume, strahlend hell, groß und stark. Tja, und in der Nacht, da mutierst du zur Venusfalle, schlägst mich immer wieder in deinen Bann und verschlingst mich mit Haut und Haaren.«
Viktors Worte in ihrem Kopf entlockten Anna ein Kichern.
»Wow, Viktor Müller, bist du unter die Lyriker gegangen? Wenn ja, dann eindeutig nur unter die elfischen! Gott, war das schwülstig! Und euer ›Son Calee‹ ist mit Sicherheit der einzige Elfendichter, dem bei diesem Vortrag speiübel geworden wäre! Außerdem meinst du sicherlich die Venus–fliegen-falle. Ich hätte nicht gedacht, dass du dich mal mit einer kleinen Fliege vergleichst.«
Sie zuckte erschrocken zusammen, als er sie plötzlich zärtlich umfing. Zwar hatte sie deutlich seine Gedanken gespürt und gelesen, dabei allerdings nicht erkannt, dass er bereits direkt hinter ihr stand. Dieser verrückte halbelfische Königssohn, der sie zu Beginn der vergangenen Sommerferien auf ihrer Lichtung im Wald einfach angesprochen und ihr innerhalb weniger Sekunden nach allen Regeln der Kunst den Kopf verdreht hatte.
Immer noch zog sich Annas Herz beim Klang seiner dunklen Samtstimme und bei seinem Anblick zusammen. Immer noch hatte sie Schwierigkeiten, zu begreifen, dass er allein ihr gehörte, nur mit ihr zusammen sein wollte und sie unentwegt begehrte.
Mehr als einen ganzen furchtbar langen Tag hatte Anna ihn nicht gesehen. Deshalb freute sie sich sehr auf seine leuchtend dunkelblauen Augen, die sie stets so interessiert und gefühlvoll, zudem oft sinnlich anschauten, aus einem Gesicht wie gemalt. Langsam drehte sie sich zu ihm.
Viktor trat ein Stückchen zurück und stellte sich lächelnd vor sie: Groß, lässig die Arme vor der breiten Brust verschränkt, an die Balkontür gelehnt, sah er sie an. Genauso, wie Anna es sich vorgestellt hatte.
Auf seinem attraktiven Gesicht bildeten sich unwiderstehliche Grübchen, sobald er lächelte, so wie jetzt. Dieses Gesicht war nach ihrem Dafürhalten ein Spiegel seiner Seele. Es erweckte Vertrauen bei denen, die ihm begegneten, ob nun Mensch und Elfe. Anna konnte es gar nicht abwarten, ihre Hände in seine wirren dunkelbraunen Locken, die von feinen mahagonifarbenen Strähnen durchzogen wurden, zu vergraben.
Sie war ihm verfallen, ohne Wenn und Aber. Dementgegen schlenderte sie betont gemächlich auf ihn zu und spielte unterdessen gedankenverloren mit ihrer Kette samt weißgoldenem Medaillon. Viktor hatte ihr den Schmuck im vergangenen August zum siebzehnten Geburtstag geschenkt.
Augenblicklich dachte sie an diesen Tag zurück, an dem sie zum ersten Mal mit ihm geschlafen hatte. Sie dachte außerdem an seinen ersten zärtlichen Kuss im Sommer, im Wald.
Verfallen war sie ihm allerdings bereits seit der ersten Sekunde. Seit dem Moment, an dem sie träumend auf ihrer Lichtung unter der Birke gesessen, er mit einem Mal dagestanden hatte, in seinem Sonnenstrahl, und sie nach ihrer Brille fragte, die sie an diesem Tag nicht trug.
Annas Herz machte nach wie vor Hüpfer, wenn sie daran oder überhaupt an ihn dachte.
»Gott, war das aufregend. Er ist so schön. Damals hätte ich nie gedacht, dass er mich lieben könnte. Aber er tut es. Er liebt mich.«
Ein warmes Lächeln hellte Viktors Züge auf. Es war sein spezielles Lächeln, das nur ihr galt und das sie so faszinierte, weil sich dann diese Grübchen auf seinen Wangen vertieften, was sein Antlitz noch reizvoller machte.
Er trat wieder auf sie zu, umfasste ihr Kinn, um sie sanft zu küssen.
»Sag mal, bist du so in deine Grübeleien vertieft, dass du nicht einmal mein Klingeln gehört hast? Du hast dich kein bisschen verschlossen, Kleines. Hhm, eigentlich müsste ich rot werden bei dem, was du so über mich denkst. Aber du kennst mich ja. Ich kann, bis auf deine leisen Zweifel, gut damit leben, denn ich liebe dich auch und du gehörst mir.«
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