Das war ärgerlich, denn das Radio war unsere einzige kleine Informationsquelle gewesen. Zum Glück hatten Herbert und Uschi in ihrem Bulli ein richtiges Autoradio mit dem sie regelmäßig die Nachrichten der Deutschen Welle empfingen. Zur musikalischen Entspannung hatten wir sowieso noch das Uher-Report und viele Stunden Musik auf Tonbändern dabei.
Wir machten uns wieder auf den Weg und kamen durch das Dörfchen Palenque, das 1967 von etwa 1.600 Menschen bewohnt wurde. Es tut mir Leid, aber nur durch Vergleichen mit heute kann man einige der Probleme Mexikos darstellen. Palenque hat heute 85.000 Einwohner, das ist das 53-fache! Landflucht und Verstädterung bringen immer mehr soziale Ungleichheit und Zündstoff an die Oberfläche. Im Fall von Palenque und seiner weiteren Umgebung mit ihren touristischen Attraktionen kommt hinzu, dass finanziell und politisch mächtige Kreise hier ein zweites Cancún aufbauen wollen. Ein touristisches Mega-Center. Das geht, so befürchtet ein großer Teil der ortsansässigen Bevölkerung, nicht ohne Enteignung von Gemeinschaftsland. Menschenrechtsorganisationen beklagen, dass soziale Konflikte bewusst geschürt würden, um eine Änderung der Besitzverhältnisse trickreich herbeizuführen.
Wir überquerten den mächtigen Usumacinta und fuhren weiter auf der Straße Nr.186 Richtung Campeche. Diese Verbindung durch das Landesinnere der Halbinsel Yucatán war gerade fertiggestellt worden und in manchen Autokarten noch gar nicht eingezeichnet. Sie war offiziell geöffnet, aber es schien uns, als ob das kaum jemand wusste. Es war ein Vergnügen auf dieser jungfräulichen Asphaltstraße dahinzugleiten. Kein Schlagloch, makelloser glatter Straßenbelag, und absolut kein Verkehr. Aber auch keine Tankstellen! Die einzige Tankstelle, die wir vorfanden, war ein menschenleerer Rohbau mit verhängten, noch nicht funktionsfähigen Zapfsäulen. Wir kamen ins Grübeln und hofften, morgen auf eine Tankstelle zu treffen. Hildrun nutzte ihre Chance und übte auf dieser einsamen Strecke das Autofahren.
Zunächst brauchten wir einen Platz für die kommende Nacht. Links und rechts der einsamen Straße wucherte sumpfiger Dschungel. Ab und zu strebten riesige Regenwaldbäume in den Himmel, aber kein einziger kleiner Nebenweg bot uns die Chance, vom frischen Asphalt herunterzukommen. Sollten wir mitten auf der Straße übernachten? Und wenn nachts dann doch ein LKW angebraust kommen würde?
Am Straßenrand erblickten wir ein Dschungeldörfchen. Eine Ansammlung von fünf Hütten. Vermutlich lebten dort Viehhirten, denn es zeichnete sich bereits ab, dass der Tieflanddschungel durch Abholzung zur Savanne wurde. Als wir zehn Jahre später durch diese Region Yucatáns fuhren, hatte ich unserem Freund Heiko, der mit einem zweiten VW-Bulli bei dieser Reise dabei war, bereits tagelang vorgeschwärmt, durch was für eine beeindruckend einsame Dschungellandschaft wir kommen würden. Tja, es war ein Schock: weit und breit nur Dornbusch-Savanne und Weideland mit Buckelrindern. Man konnte tief ins Land schauen, und nur vereinzelt stand mahnend ein einsamer Baumriese wie eine Insel im Grasmeer.
Wir fragten die Bewohner, ob wir wohl die kommende Nacht in ihrer Nachbarschaft verbringen dürften. Touristen aus Alemania? Von so weit her? Na klar! Willkommen! Nur die tastende Fahrt über eine fragile Brücke aus aneinandergereihten Palmenstämmen war etwas kniffelig. Die Räder unserer Bullis drohten, zwischen die runden Stämme zu rutschen, sollten diese ins Rollen geraten. Aber wir schafften den kurzen Weg über Sumpf und düsteres Wasser. Dann standen wir endlich neben urigen Urwaldhäusern im Dämmerlicht Yucatáns.
Die Hütten waren sehr rustikal. Sie waren traditionell ausschließlich aus Naturmaterialien gebaut. Wie in weiten Teilen Lateinamerikas schliefen die Bewohner in Hängematten, der genialen indianischen Erfindung. Übrigens ist aus dem indianischen Wort 'Hamaca' durch Verballhornung unser Wort 'Hängematte' entstanden. Wir genossen den friedlichen Abend in dieser urwüchsigen Atmosphäre, die irgendwie zeitlos war...
Die Nacht war tropisch schwül und voller fremdartiger Geräusche. Hildrun und ich hatten noch keine Lust, so früh wie die Einheimischen - bei Sonnenuntergang - schlafen zu gehen. Ich konnte Hildrun überreden, mit mir ein Weilchen in die geheimnisvolle, etwas unheimliche Dschungelnacht zu wandern.
Die nahe Straße, auf der absolut kein Verkehr herrschte, bot sich für einen nächtlichen Spaziergang an. Nach einer Weile hockten wir uns mitten auf die Fahrbahn und spürten die Wärme des Straßenbelags, der die Hitze des Tages gespeichert hatte. Wir philosophierten ein wenig über das einfache und extrem einsame Leben, das wir hier so hautnah erleben durften. Durch die nagelneue Autostraße würden diese Menschen allerdings ganz plötzlich in ein anderes Leben gezwungen werden. Die verkehrstechnische Öffnung dieses bislang abgeschiedenen Landstrichs würde auch die Nachteile des Fortschritts mit sich bringen. Die Bewohner waren keine typischen indigenen Ureinwohner, sondern schlichte mexikanische Landbewohner, deren Kinder uns noch sehr schüchtern begegneten.
Gedankenvoll hockten wir auf dem warmen Asphalt.
"Schon komisch", sagte ich zusammenhanglos, "bald ist Weihnachten." Tatsächlich trennten uns nur noch fünf Tage von Heiligabend. Wir lauschten den Zikaden, die laut sirrten, und den fremdartigen Tönen, die angeblich Frösche machten und die eher an den Gesang von Vögeln erinnerten. Mit einem Male ertönte ein durch Mark und Bein gehendes Gebrüll, das uns vor Schreck zusammenfahren ließ.
"Was ist das denn?", fragte Hildrun und stellte sachlich fest: "Ich habe Angst!"
"Hört sich an als ob da größere Tiere, vielleicht Jaguare kämpfen", grübelte ich laut und fummelte nach dem Revolver, den ich vorsorglich und zur Beruhigung doch noch eingesteckt hatte.
"Dann lass uns bloß von hier verschwinden", drängte Hildrun und drückte sich an mich, eingeschüchtert von dem irrsinnigen Lärm, der durch den Dschungel hallte. Wir verkrümelten uns schnellstens in Richtung Camping-Bullis. Zuvor aber ging ich noch zu den nahen Hütten und fragte vorsichtig in die Dunkelheit, was denn da wohl im Urwald vor sich gehe, wer denn da so einen Lärm mache.
"Los monos", war die lapidare Antwort.
"Los monos?", fragte ich verblüfft und bekam die Bestätigung: "Si, los monos..."
Brüllaffen waren es. Brüllaffen, aus der Familie der Klammerschwanzaffen, weil sie wie alle lateinamerikanischen Affen ihren Schwanz als fünftes Greifwerkzeug benutzen. Brüllaffen also, die größten Affen der Neuen Welt, und bestimmt die lautesten Baumbewohner der ganzen Welt.
Trotzdem hatten wir eine geruhsame Nacht und nahmen das Brüllkonzert als das, was es war: ein unvergessliches Abenteuer!
Natürlich gab es keine Tankstelle auf der weiteren Dschungelstrecke. Unsere Tankanzeigen rutschten tiefer und tiefer. Es waren die goldenen Zeiten des Spritverschwendens! So ein armseliger Boxermotor mit 34 PS brauchte doch tatsächlich um die 11 bis 12 Liter auf hundert Kilometer. Die freundlichen Dschungeldorfbewohner hatten uns allerdings darauf hingewiesen, dass wir auf unserem Weg eine größere Vieh-Finca passieren würden. Die Leute dort verkauften uns dann tatsächlich jeweils fünf Liter Benzin.
Читать дальше