Eine weitere Einkommensquelle der örtlichen Bevölkerung war die Ernte der vielen Kokosnüsse, die auf den Palmen entlang der Küste, und an den vielen Lagunen, dicht an dicht in regelrechten Wäldern wuchsen. Große Strandflächen wurden zum Trocknen der Nüsse genutzt, die schließlich mit Äxten oder Macheten gespalten wurden, um danach das weiße fetthaltige Kernfleisch herauszuschälen. Das getrocknete Kernfleisch wurde als Kopra verkauft, aus der man letzten Endes Kokosöl gewinnen konnte.
Ein paar Strandköter, grauselige Kreaturen, hatten sich dem Schutz unseres Rudels unterworfen. Jede Nacht schliefen sie unter den Bullis und sorgten für einen gewissen nächtlichen Lärmpegel, wenn sich vermutlich eine Ratte oder ein Strandkrebs zu nah an unsere Wagenburg heranwagte. Wir ließen die armen Tiere gewähren, vermieden aber eine zu große Nähe, denn sie waren von Schwären und Bisswunden und bestimmt auch Flöhen übersät und sahen alles andere als gesund und vertrauenswürdig aus. Aber sie liebten uns, denn sie bekamen regelmäßig irgendetwas zugeworfen, das ihren Hunger stillte. Als Hildrun und ich einmal am Strand entlang stromerten, folgten sie uns treu. Wir fanden ein paar große tote Fische, die sie gierig zerfetzten und auffraßen.
Zum Abschied zauberte Harald noch einen köstlichen Braten aus zwei Kilo Schweinefleisch, das wir direkt nach der Schlachtung hatten kaufen können. Es war lange her, dass wir uns an Frischfleisch gewagt hatten. Dann lud uns die mexikanische Familie, von der wir den Unterstand gemietet hatten, zu einem Stück Torte ein. Der kleine Carlo, eines von acht Kindern, hatte Erstkommunion. Und danach tanzten wir ausgelassen in der tropischen Nacht. Es war ein unvergesslicher Abend!
Eine Woche unbeschwerten Strandlebens musste reichen. Der Abschied fiel uns sehr schwer, doch wir erwarteten in Mérida Post und hatten uns Geld dorthin überweisen lassen. Wir verabredeten mit Harald und Valerie, die noch an der Pazifikküste bleiben wollten, uns zum Jahreswechsel am anderen Ende von Mexiko zu treffen. Und zwar in Puerto Morelos im Territorium Quintana Roo auf der Halbinsel Yukatan.
"Also dann, bis Silvester am Karibikstrand!", - oder so ähnlich war unser Abschiedsgruß von den beiden als wir uns mit unseren VW-Bullis wieder auf den Weg ins Hochland von Mexiko machten.
Da lag jedoch noch Acapulco mit seinen lockenden Boutiquen und Läden auf unserer Route. Und dort machten wir die Bekanntschaft einer Geschäftsfrau, die sich so sehr darüber freute, uns deutsch sprechen zu hören, dass sie uns spontan zur Übernachtung in ihre Villa einlud.
Sie war Weißrussin, hatte aber in Hamburg gelebt und war von dort rechtzeitig vor dem Zweiten Weltkrieg nach Mexiko ausgewandert, oder sogar vor dem Naziregime geflüchtet? Ihr Textilgeschäft an der Uferpromenade Acapulcos hatte sie mit ihrem mexikanischen Mann aufgebaut. Nun war sie Witwe, beziehungsweise mit einem um Jahre jüngeren Mexikaner wieder verheiratet. Wir merkten bald, dass wir da in eine ziemlich verzwackte Beziehungskiste und eine skurrile soziale Szenerie geraten waren...
Aus geschäftlichen Gründen musste sie angeblich mit einem Mexikaner verheiratet sein, wenn wir das richtig begriffen hatten. Sie hatte sich dazu einen jungen Mann erkoren, der wiederum seine sexuellen Freuden bei seiner Cousine fand, die im Haushalt arbeitete. Das blieb natürlich nicht ohne Folgen. Nun ist in Mexiko die Verbindung zwischen Cousin und Cousine angeblich verboten, was mir allerdings schleierhaft ist in einer Weltregion, wo Konkubinate, sogenannte wilde Ehen und fröhliche Querfeldein-Liebesbeziehungen zur Alltagsnormalität gehören und folglich sogar allerlei Halbgeschwister-Ehen möglich sind. Ich vermute, dass unsere Gastgeberin ein bisschen mit den Fakten des Lebens auf Kriegsfuß stand. Jedenfalls behauptete sie, dass sie den Kleinen, der in der Villa aufwuchs, als ihr Kind hat registrieren lassen. Sie war allerdings bestimmt nicht mehr im gebärfähigen Alter.
Die Villa war ein respektables Haus mit reichlich Wohnraum und einem Swimmingpool im Garten. Doch vieles war erschreckend heruntergekommen. Der Swimmingpool beispielsweise war überwuchert mit wildem Pflanzenwuchs. Uns hätte es nicht gewundert, wenn da Kaimane und Schildkröten ein edles Biotop gefunden hätten. Freizügig in Hof und Haus herumlaufende Hühner hatten ihren Lieblingsplatz in der Küche gefunden. Sie hockten auf den offenen Schubladen und machten ihr Geschäft schon mal dösig gackernd ins schwere Silberbesteck. Ja, es war eine skurrile Umgebung, in die wir da hinein schauten und leise vor uns hin rätselten...
Wir wollten die sehr warmherzige und freundliche Dame natürlich nicht brüskieren und nahmen ihre Gastfreundschaft dankbar an. Geschickt umschifften wir eventuelle Peinlichkeiten, wenn etwa Besteck aus den Küchenschubladen geholt werden musste. Es gab schließlich fließend Wasser, und wir hatten einen gewissen Abhärtungsgrad erreicht, der sich beim Umgang mit Ekelgefühlen als hilfsreich erwies.
Als wir über unsere Reise plauderten, fragte die Señora des Hauses, ob wir denn auch bewaffnet seien. Wir bejahten, und sie fragte meine Frau: "Kannst du denn auch mit dem Revolver umgehen?"
Als Hildrun herumdruckste sagte sie: "Du musst üben! Die Knarre nützt dir gar nichts, wenn du sie nicht richtig handhaben kannst. Die bösen Buben haben doch alle einen Revolver. Da musst du einfach schneller sein. Ich kann schießen, das habe ich hier in Mexiko lernen müssen. Es waren wilde Zeiten, das kann ich euch sagen..."
Sie erzählte, dass sie außerhalb Acapulcos noch einen 'Ranchito' besitze, so eine Art Landhaus für Wochenenden oder Ferien. "Die Einbrecher dort wissen genau, dass ich nicht zögere zu schießen. Ich ziele allerdings immer auf die Hacken", sagte sie lachend.
Es war lange her, dass wir eine Nacht in einem Schlafzimmer zubrachten. Das Bett war in Ordnung. Aber leider waren wir nicht gegen die Attacken der Moskitos vorbereitet und kamen zu dem Schluss, dass unser Kuschelschlafsack im Camper einfach unschlagbar gemütlicher war...
Diesmal passten wir auf, dass wir uns nicht verlieren konnten auf dem Weg durch die südliche Sierra Madre. An einem idyllischen Bergbach, hoch in der Sierra, übernachteten wir gut geschützt vom 11. auf den 12. Dezember, keine dreißig Kilometer vor Taxco, der Silberstadt.
Es war nicht weit von Taxco nach Cuernavaca. Die Hauptstadt des Bundesstaats Morelos, südlich von Mexico-City, war schon zu Zeiten von Cortés eine beliebte Sommerresidenz der Wohlhabenden. Dort herrscht auf 1.500 Metern ein stetes Frühlingswetter mit einer durchschnittlichen Temperatur von 23 Grad. Es heißt, Alexander von Humboldt habe Cuernavaca den schmückenden Namen 'Stadt des ewigen Frühlings' gegeben.
Schade war, dass wir nicht viel Zeit in die Besichtigung der malerischen Stadt investierten. Städte brachten uns zwangsläufig in Situationen, in denen wir uns verwundbar fühlten. Unsere Bullis, irgendwo unbeaufsichtigt abgestellt, hätten im Handumdrehen ausgeraubt werden können. Gepäck vom Dachgepäckträger zu klauen wäre noch leichter gewesen.
Also machten wir es kurz und schauten uns um. Und wir konnten, dank der klaren Sicht, Fotos vom fernen, aber eindrucksvoll den Hintergrund der Stadt dominierenden Vulkan Popocatépetl machen. Der liebevoll auch 'El Popo' genannte Berg ist mit 5.460 Metern Höhe der zweithöchste Vulkan Nordamerikas. Und Mexikos zweithöchster Berg. Beim Blick auf den 'Popo' vergaßen wir völlig, dass links neben dem dominanten Kegel ein zweiter Vulkan liegt, der ebenfalls einen an Schulzeiten erinnernden Zungenbrechernamen hat: der Iztaccíhuatl. Also, bitte!
Unsere Besorgnis wegen eventueller krimineller Elemente wäre heute sicherlich viel begründeter. Damals wohnten 37.000 Menschen in Cuernavaca. Heute sind es sage und schreibe 350.000. Oh! Ich merke schon, an diesen Zahlenbeispielen will ich so eine Art Opa-Philosophie festmachen, im Sinne von 'Ja, damals war alles besser'. Okay, ich werde sparsamer über unseren immer dichter bevölkerten Planeten jammern. Aber ab und zu sollte man schon darauf hinweisen, wie schnell sich alles geändert hat - und versuchen es neutral darzustellen. Ein großes Privileg des Älterwerdens ist es halt, dass man vergleichen kann, weil man Veränderungen bewusst in seinen Erfahrungsschatz als abrufbare Erinnerungen aufgenommen hat.
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