„Herzlichen Glückwunsch“, sprachen Tarpen und ich gleichzeitig, obwohl die Situation denkbar schlecht für ein solches Ereignis war. Daher wirkte unser aufgesetztes Lächeln nicht ganz ehrlich. Tarpens Augen blickten traurig mitfühlend.
„Danke“, flüsterte seine Gemahlin und errötete schamhaft.
Unsere kleine Gemeinschaft aß etwas vom Fisch. Sokolow und seine Frau griffen nur symbolisch zu. Sie hatten ihre Vorspeise schon gegessen. Für einen Moment hatte uns die gute Nachricht in schlechten Zeiten den Mund verschlossen. Das Schweigen lastete für einen Augenblick auf unserer kleinen Gesellschaft.
„Hintermänner?“, versuchte ich nach ein paar salzigen Happen die unangenehme Stille zu vertreiben.
Der Staatsanwalt sah mich erneut mit diesem merkwürdigen Blick an und musterte mich abermals genau.
„Wir wissen jetzt, dass die Toten mit Schwefelsäure übergossen wurden, um sie unkenntlich zu machen. P. L. Wojkow, der Versorgungskommissar des Ural, hat diese Brühe geliefert und als Lohn den Rubinring der Zarin erhalten.“
Ich konnte mich gut an das Schmuckstück erinnern. Der Ring war ein Geschenk meines Vaters zum zwanzigsten Hochzeitstag. Papa hatte Mama über alles geliebt. Vater hatte sich von mir beraten lassen, als er diesen bei unserem berühmten Hofjuwelier, dem genialen Fabergé, anfertigen ließ.
„Und das ist bloß die Spitze vom Berg“, fuhr der Staatsanwalt fort. „Fast zur gleichen Zeit wurden die Schwester der Zarin, die Frau des Großfürsten Michail und ihre Söhne, die einen Anspruch auf den Thron hätten, in Alapajewsk lebendig in einen Schacht gestoßen. Man konnte ihre Leichen identifizieren und hat inzwischen die toten Romanowprinzen nach Tschita überführt. Soviel ich weiß, will man sie nach Osten, notfalls bis China, mitnehmen, um wenigstens ihre Überreste vor den Bolschewiken zu retten. Wie bei der Ermordung des Großfürsten ließen die roten Bestien Lügen verbreiten. Sie streuten das Gerücht, dass angeblich Weiße die Prinzen entführt hätten. Sie seien also gar nicht tot. Das Ziel Lenins ist es, alle Romanows auszurotten. Ihr Alter spielt für sie keine Rolle. Sie haben kein menschliches Herz. Satan führt die Revolution persönlich an.“
In Gedanken rächte ich sie alle. Unsere Feinde sollten sich so winden wie mein Vater, der Zarenbruder Michail und alle Liebsten aus meiner Familie.
„Vieles wissen wir von Medwedew“, fügte der Staatsanwalt hinzu. „Leider konnte ich diesen Unhold nicht mehr befragen, da er eines mysteriösen Todes gestorben ist.“
„Wissen Sie zwischenzeitlich mehr darüber?“, erkundigte sich Tarpen in stockigem Russisch. Es war aber insgesamt durch unser häufiges Beisammensein besser geworden.
Die Frage meines Angebeteten ließ meinen Nacken kribbeln, als würde mich jemand dort packen. Hoffentlich geriet ich nicht in Verdacht, denn wir hatten wenige Tage nach dessen Tod die Stadt verlassen.
„Während der Autopsie fanden wir einige merkwürdige Spuren“, eröffnete Sokolow.
„Da er jedoch überall Hämatome und Wunden hatte, können diese durchaus auch von Belozerkowskis Befragungsmethoden stammen. Sie verstehen sicherlich …“, gab unser Gesprächspartner bereitwillig Auskunft. „Das machte die Klärung der wirklichen Todesursache unmöglich. Vielleicht war einfach sein Herz stehen geblieben. Ich bin ja generell gegen Folter. In seinen leblosen Augen stand irgendwie Entsetzen. Wir haben die Geschichte verbreitet, er sei an Typhus gestorben. Doch das hat der Oberstaatsanwalt nicht geglaubt. Er hat gar nichts geglaubt. Anfangs hat Miroljubow sogar mich als Täter verdächtigt und eine penibel genaue Untersuchung gefordert. Leider bleibt Medwedews Tod bis heute in weiten Teilen ein Rätsel. Das kann wohl nur Gott wirklich lösen.“
Ich war zufrieden. Niemand brachte mich mit dem Mord in Verbindung.
„Aber gewiss doch“, fügte ich mit einem schelmischen Schmunzeln hinzu, das gleichwohl bestens in meiner Brust verborgen blieb.
„Auch eines der Trommelfelle war durchbohrt. Einige abergläubische Bewacher meinten, dass ein rachsüchtiger Geist ihn ermordet hat.“ Sokolow lachte. „Doch konnte ich das dem Oberstaatsanwalt schreiben?“
Wir machten große und erstaunte Augen. Die meines Gefährten waren aufrichtig, die meinen lediglich ein Kunstwerk. Ich wusste als Einzige, wie er wirklich gestorben war.
„Russen sind eben ein abergläubisches Volk!“, ergänzte seine hübsche Frau.
„Als Ausländer dürfte ich so etwas nie sagen“, scherzte Tarpen. „Dabei könnte es richtig sein.“
Ich tat ebenfalls so, als amüsierte mich der letzte Teil der Geschichte köstlich. Und in der Tat hatte er seinen Reiz. Genüsslich dachte ich an den Tod dieser Bestie, die von mir gerichtet wurde. Ich leckte zufrieden kurz meine Lippen. Ja, das war Gerechtigkeit.
Tarpen blickte irritiert in mein zufriedenes Gesicht. Rasch passte ich dessen Ausdruck der Situation an, ebenso meine Worte: „Jaja, der Volksglaube“, murmelte ich, wie es der russischen Etikette entsprach.
„Da Medwedew nicht mehr zur Verfügung stand, musste ich andere Wege suchen“, fuhr der Staatsanwalt fort und trank etwas Wein. „Ich habe mir deswegen genau angeschaut, mit wem die Bolschewiken vor dem Attentat gesprochen haben.“
„Wie denn das?“, fragte Tarpen.
„Das Hauptpostamt bewahrt die versandten Telegramme für einige Zeit auf. Also bin ich dorthin gegangen. Durch den plötzlichen Angriff hatten die Bolschewiken nicht daran gedacht, dieses Wissen zu vernichten.“
Schweiß rieselte meinen Rücken vor Aufregung herunter und begann sich wohlig zu erwärmen. Gleich erfuhr ich mehr über die Mörder meiner Familie. Offenbar war der Staatsanwalt noch zu etwas zu gebrauchen.
„Offiziell gaben die hochrangigen Bolschewiken Filip Goloschtschokin und Alexander Beloborodow den Befehl zur Ermordung der Zarenfamilie“, sagte der Staatsanwalt. „Doch stimmte das? Die meisten Eingeweihten vermuteten, dass Lenin den Mord angeordnet hat. Dafür gibt es aber bisher keinen belastbaren Beweis. Vielmehr haben wir andere Indizien gefunden. So fand ich im Hauptpostamt verschlüsselte Telegramme amerikanischer Diplomaten an Beloborodow. Es könnte sein, dass sie hinter allem stehen und den Mord angeraten haben.“
„Wie kommen Sie darauf?“, fragte Tarpen verblüfft.
„Wir konnten einen Namen entschlüsseln. In Amerika lebt ein jüdischer Illuminatenbanker. Er heißt Jacob Fischer. Wir wussten über geheime Quellen bereits vorher, dass er, wie die Deutschen auch, die Bolschewiken unterstützt. Der Kerl zieht viele unsichtbare Fäden und ist offenbar der eigentliche Auftraggeber der Telegramme. Man könnte spekulieren, er wolle auf diese Weise das Auslandsvermögen der Romanows an sich reißen. Ich bin zwar kein Anhänger der Theorie, dass die Revolution eine zionistische Verschwörung ist, aber es ist auffällig, dass fast alle Beteiligten am Zarenmord Juden sind. Beloborodow ist ein Jude, Lenin auch und das Erschießungskommando ist ebenfalls voll davon.“
Der Kellner brachte nun den Hauptgang, Spanferkel und Kartoffeln.
„Wahrscheinlich ging es wie immer um sehr viel Geld“, fasste Sokolow zusammen. „Mehr wissen wir erst, wenn es uns gelingt, die verschlüsselten Nachrichten ganz zu dechiffrieren. Ich werde sie auf die Flucht mitnehmen.“
Mein Inneres kochte. Von Jacob Fischer hatte ich noch nie gehört. Ich setzte auch ihn auf meine Liste der zu tötenden Mistkerle. Die anderen Genannten waren dort ohnehin schon notiert.
„Und wo wollen Sie jetzt hin?“, erkundigte sich Tarpen.
Der Staatsanwalt lief rot an und druckste herum. Mit einem schiefen Lächeln gestand er: „Genau das ist unser Anliegen. Entschuldigen Sie die aufdringliche Frage, aber wir haben keine Wahl.“ Er rang etwas mit sich. „Halten Sie es für möglich, dass die Tschechische Legion uns mitnehmen und einen gewissen Schutz bieten könnte?“
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