Als ich mich fast am Ende der Startbahn befand und gerade im hohen Gras den Grenzstein des Planquadrats des Marktes suchte, hörte ich plötzlich Explosionen vom stadtseitigen Ende des Blocks, an dem die Plastikplanenzelte des Colla-Marktes lagen. Auf der Straße vor den Eingängen des Colla-Marktes hatte sich eine laut skandierende Menschenmenge gebildet. Es wurden Feuerwerkskörper ins Innere des Colla-Marktes geschleudert. In jenem Moment fand mein Begleiter Manolo den gesuchten Grenzstein, der Tumult schien ihn wenig zu interessieren. Ich sagte ihm, er solle beim Grenzstein warten und ging in großem Bogen um die Szene herum zur Straße, um mich von dort aus wieder dem Geschehen zu nähern. Ich fragte einen herumstehenden Alten, was denn los sei?
»Die Collas haben in Santa Rosa die Busse unserer Delegation blockiert, die an der Demonstration für die Separation in Santa Cruz teilnehmen wollte. Die konnten nicht weiter. Jetzt sind sie zurück und jetzt gibt's die Strafe!« Er lachte hämisch.
In dem Moment startete eine kleinmotorige Maschine, röhrte über die Menschenmenge und hüllte alles in eine Staubwolke. Als sich der Schleier gelegt hatte, wurde erkennbar, dass etliche Cambas die unklare Sicht genutzt hatten, in den Colla-Markt eingedrungen waren und dort einzelne Stände mit Getreidesäcken, gestapeltem Gemüse und Obst umgeschmissen hatten. Plastikplanen wurden angezündet, die Holzgestelle, über die sie gespannt waren, brannten auch bald.
Notgedrungen mussten sich die Collas zurückziehen, auch wenn immer wieder wutentbrannte, korpulente Männer aus ihren Reihen in Richtung ihrer brennenden Stände liefen, um wild auf die zerstörenden Camba-Vandalen einzudreschen. Das hatte bei den meisten zur Folge, dass sie selber böse vermöbelt wurden und noch Tritte kassierten, selbst als sie schon am Boden lagen.
Erwin und seine Hofschranzen waren auch gekommen. Sie standen abseits im Schatten eines Säulenganges. Höhnisch beobachteten sie das Geschehen und lachten schenkelklopfend. Plötzlich kamen zwei Lastwagen aus der städtischen Kaserne angepoltert. Am Eingang des Marktes kamen sie ruckartig zum Stehen und es hüpften vier Züge blutjunger, mit Maschinenpistolen bewaffneter Hochlandsoldaten heraus und formierten sich. Sie trugen weiße Helme und eine Schärpe über ihren Tarnanzügen, die sie als Militärpolizei auswies. Ich wusste gar nicht, dass das geht - einfach so von Soldat auf Polizei umzuswitchen.
Erwin und Konsorten hatten aufgehört, zu lachen und schauten nun ernst auf die Militärs. Der Befehlshaber schrie sich die Seele aus dem Leib, jeder zweite Soldat gab eine Schusssalve in die Luft ab, dann setzten sie sich im Dauerlauf in Richtung Colla-Markt in Bewegung. Es dauerte nicht lange, da kamen von dort auch schon die ersten Schüsse. Weil die meisten Plastikplanen qualmten, war wenig zu sehen. Inzwischen war draußen die gaffende Menschenmenge weiter angewachsen, Teile von ihr skandierten unaufhörlich ›Collas raus!‹, ›Unsere Chiquitania!‹ und Ähnliches.
Die Collas zogen sich in Flughafenrichtung aus ihrem Markt in die umliegende Pampa zurück. Große Teile von ihnen bewegten sich im Lauftempo in Richtung meines Gehilfen Manolo, der immer noch am startbahnseitigen Ende des Planquadrates teilnahmslos und gähnend an sein Stativ gelehnt stand. Die Frauen rannten tittenschlonkernd voran, die meisten mit Kleinkindern im Arm. Die Männer bildeten die Nachhut, um die Frauen vor den sie verfolgenden Cambas abzuschirmen.
Die Frauen waren auch die ersten, die meinen Gehilfen erreichten, ihn sofort als Camba identifizierten, auf ihn einschlugen und -traten. Er wurde einfach umgerannt und jeder der vorbeikam, verpasste ihm was. Ich machte drei Typen vom Munizip in der Nähe aus und schrie ihnen im Vorbeilaufen zu, dass Manolo dort hinten am Ende des Geländes alleine stand, oder mittlerweile lag, ich sah ihn nicht mehr. Die Jungs kamen sofort mit, schließlich war ein Camba in Lebensgefahr.
Als wir ankamen, lag Manolo wimmernd am Boden, sein Wanst quoll über den Hosenbund. Sein Gesicht war auf der einen Seite bereits blau angelaufen, aus dem Mundwinkel sickerte Blut. Wir richteten ihn auf, stützten ihn zu zweit und bewegten uns in Richtung Straße. Die anderen Munizipler eilten herbei, um uns vor weiteren Angriffen der vorbeirennenden Collas abzuschirmen. Die Luft war staubschwer, es roch nach verbranntem Plastik und Schwarzpulver.
Die Sonne neigte sich einem weiteren wunderschönen, blutorangeroten Untergang entgegen. Auf der Straße angelangt, übergaben wir Manolo einem der beiden Rettungsteams, die das städtische Krankenhaus vor Ort bereits abgestellt hatte. Sie konnten für die Verletzten des Marktes noch nichts tun, da aus dem Colla-Markt immer noch Tumulte und vereinzelte Schüsse hörbar waren. Daher bekam Manolo zunächst ihre volle Aufmerksamkeit.
Als in der folgenden Verschnaufpause mein Blick über die Zuschauer schweifte, erkannte ich plötzlich das Gesicht des Mannes, vor dem ich auf dem verlassenen Anwesen des Bischofs auf dem Wasserwege abgehauen war. Seinen Namen, den mir Anna genannt hatte, hatte ich nicht vergessen: Eduardo Rózsa Flores, der Glatzkopf mit Bart und großer Narbe auf der Backe. Er stand inmitten zweier sonnenbebrillter Begleiter in einem höher stehenden Säulengang und schien sichtlich zufrieden mit dem Geschehen, alle drei grinsten und scherzten. Er hatte diesmal keine Tarnklamotten an, sondern Shorts, T-Shirt und Adiletten, wie seine beiden Begleiter auch. Einer der beiden war auffallend dünn und schlaksig und einen Kopf größer als Rózsa Flores. Ich fragte mich, ob Rózsa Flores mich wiedererkannt hatte, als er sich umdrehte und meinen Blick traf. Er lächelte mich, gar nicht unsympathisch. Ich erschauderte trotzdem und vermied seinen Blick, schaute wieder zum Geschehen. Als etliche junge Soldaten mit gefangenen Camba-Aktivisten in Gewahrsam, vom Markt wieder auf die Straße kamen, trollten sie sich in Richtung von Erwins Gruppe, klatschten mit denen ab und verschwanden. Erwin und seine Hofschranzen wandten sich auch ab und verließen langsam die Szene.
Die Soldaten verfrachteten die Gefangenen schnell in die Lastwagen und beeilten sich, wieder abzuhauen, denn die empörte Zuschauermenge formierte sich bereits und forderte lauthals die Freilassung ihrer Leute.
Wie ich später hörte, wurden die Gefangenen der lokalen Polizei übergeben, welche sich vor Ort komplett aufs Zuschauen beschränkt hatte. Die gefangenen Cambas saßen ab jenem Moment im Knast des Polizeireviers ein und wurden in San Ignacio fortan zum Symbol des Kampfes der Nación Camba für ihre Befreiung von den unerwünschten Collas und der Ausbeutung durch diese. Mahnwachen wurden kurz darauf aufgestellt, Kerzen brannten wochenlang vor dem Knast des Polizeipräsidiums und die Märtyrer erhielten andauernd Fresspakete.
Als ich kurz darauf nach Hause kam, saßen meine drei Mitbewohner auf der Terrasse, Wilson redete aufgeregt, es war bereits dunkel. Sie tranken Bier und rauchten Joints. Ich grüßte die Mädels per Wangenkuss und drückte Wilsons schlaffe Fischhand. Ich setzte mich dazu und lauschte erst mal, was Wilson denn so in Aufregung versetzt hatte.
Es ging um die Blockade in Santa Rosa de la Roca am Vormittag. Er war zufällig in einer Comunidad in der Nähe gewesen und hatte auf der Rückfahrt nur kurz in Santa Rosa angehalten, um in einem Laden Wasser zu kaufen. Am Ortsausgang Richtung Santa Cruz hatte er einen Menschenauflauf beobachtet und sich neugierig an den Rand des Geschehens gestellt. Er war überrascht von der, wie er sagte, ›überkochenden, aggressiven‹ Stimmung vor Ort.
Die Collas der Gegend waren in Scharen aus ihren umliegenden, neu gegründeten Weilern nach Santa Rosa gekommen, um die Cambas aus San Ignacio daran zu hindern, zur Pro-Referendum-Demo nach Santa Cruz zu reisen.
Wilson hatte sich nahe genug beim aufgebrachten Mob positioniert, um zu verstehen, was dort los war. Die angereisten Collas hatten am Ortsausgang bereits angefangen, Barrikaden zu errichten: Autoreifen, Baumstämme, Möbelstücke - dasselbe Blockadematerial wie überall. Die Nebenstraßen, die durchs Gestrüpp neben der Hauptstraße verliefen, waren ebenfalls verbarrikadiert. Es gab kein Durchkommen mehr. Einige Reisende in beide Richtungen hatten es versucht und wurden dabei vom aufgebrachten Colla-Mob fast auseinandergenommen. Auch diejenigen, die es über die Feldwege versucht hatten, kamen entnervt zurück, um sich wieder brav in die Autoschlangen beiderseits der Straßensperre einzureihen.
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