»Komm mit und hilf mir, da fehlt noch was. Die kommen oben gleich ins Büro gestürmt.«
Ich lief hinter ihm her. Hinter dem Mauertürchen warteten noch etliche Aktenstapel, die wir aber zu viert in einem Gang zum Auto schafften und zu den anderen auf die Ladefläche meiner alten Hilux knallten. Ich fuhr los, Wilson schaute ängstlich nach oben, ob die Meute bereits durch das Fluchttürchen in der Mauer drängte. Ich fuhr zurück auf den Cityring, zurück ins Dorf und in Richtung Hermann Rhön's Meute.
»BIST DU GEISTESGESTÖRT?« rief er schrill. »DIE BRINGEN UNS UM!«
»Quatsch, die sind so mit sich und ihrer Aktion beschäftigt, dass die uns gar nicht wahrnehmen. Die denken, ihr seid da noch drin.«
Wilson duckte sich tief unter die Konsole, die Sekretärinnen auf der Rückbank taten es ihm gleich. Ich fuhr näher an die Szene ran und sah, dass sie tatsächlich einen der massiven Holzläden aufgehebelt hatten und die ersten der Meute hineinkletterten.
»Sind sie drin?« ächzte er unter der Konsole.
»Ja, die klettern rein.«
»Oh Gott, oh Gott.«
»Reg dich ab, du bist ja in Sicherheit.«
»Ja, aber das ist alles so furchtbar. Mir ist speiübel!«
Ich fuhr in eine Seitenstraße, die vor dem Ort des Geschehens von der Hauptstraße abbog, so dass ich das Treiben gerade noch vom Auto aus einsehen konnte.
»FAHR WEITER, VERDAMMTE SCHEISSE!« brüllte er mich an, er quälte sich unsicher unter der Konsole hervor.
»Mach mal langsam, Meister, das ist mein Auto und ich habe dich gerade gerettet.« Mein Ton wurde bestimmt.
»DU SOLLST JETZT LOSFAHREN SONST …«
»Sonst was?«
Er war jetzt ganz aus seinem Versteck hervorgekrochen und fing an, mit beiden Fäusten auf die Konsole zu prügeln. Dann hörte er mit einem Mal auf und schaute mit knallrotem Gesicht starr geradeaus. Ich überlegte kurz. Die wussten ja, wo Wilson wohnte. Ich wollte nicht, dass der Trupp plötzlich vor unserem Haus auftauchte. Was hatten die bloß an Wilson gefressen? Ich rief den Bürgermeister Erwin an. Er ging sofort ans Telefon.
»Erwin, weißt du, was Hermann und die anderen gerade anstellen?«
»Ja, er hat mich eben angerufen, sie wollen die Idealisten von der Fundación Tierra Libre ein bisschen ärgern. Nichts Schlimmes.«
»Das sehe ich anders, Erwin, die sind in Lynchstimmung und gerade gewaltsam in die Büroräume eingedrungen. Ich habe Angst, dass die jetzt zu unserem Haus kommen und da weitermachen. Könntest du Hermann nicht sagen, dass es reicht für heute?«
»Hm … die sind doch harmlos.«
»Erwin, ich bitte dich ja nur um einen Gefallen. Ich wohne dort und arbeite für dich. Wir sind befreundet, ich verdiene solche Aggressionen nicht.«
»Na gut, ich rufe Hermann mal an, mal schauen, was der meint.«
»Erwin, pfeif' die Truppe zurück, es geht zu weit.«
Er hatte aufgelegt.
Als ich wieder zum Tumult blickte, zog Hermanns Truppe bereits ab. Ich fuhr über einen Umweg nach Hause, das Schlimmste befürchtend. Ich hatte das Tor der Autoeinfahrt offengelassen und fuhr direkt rein, stieg aus und schloss das Tor. Wilson rührte sich nicht. Die Sekretärinnen blieben ebenfalls im Auto sitzen und hatten angefangen, zu heulen. Ich ging zu Wilsons Tür und machte auf.
»Komm Wilson, wir schaffen die Akten ins Haus.« Ich versuchte nicht daran zu denken, was passieren würde, wenn Hermann anrückte. Mir ging das Ganze auch langsam an die Nieren. Wilson blieb einfach weiter sitzen. Ich fing an, die Aktenstapel ins Haus zu schaffen. Was soll an den Scheißakten so wichtig sein?, dachte ich mir. Im Haus kam mir Marcela entgegen, sie half mir, den Kram reinzutragen und ich erzählte ihr dabei, was passiert war. Als alle Akten im Haus waren, stieg Wilson aus, die Sekretärinnen folgten ihm wie Schoßhündchen.
»Die hat er sich wahrscheinlich gefügig gefickt!« meinte Marcela zu mir, ohne darauf zu achten, ob Wilson sie hörte oder nicht. Sie überraschte mich immer mit ihrem kruden Humor und ich musste lachen. Wilson hatte inzwischen sein Handy am Ohr und telefonierte offensichtlich mit Hans Radeberger. Es war eine Weile vergangen und Hermann Rhön und seine Truppe waren nicht aufgetaucht. Vermutlich war auch Erwin klar geworden, dass das alles No Go war. Ich stand mit Marcela auf der Terrasse herum, wir warfen uns erstaunte Blicke zu. Sie war völlig abgekocht. Nach einer Weile kam Wilson raus zu uns.
»Es ist soweit, wir werden alle hier abgezogen, Hans hat Gefahrenstufe rot ausgerufen.« Er klang triumphierend, schien wieder ruhig und normal. Da Hermann definitiv nicht aufzukreuzen schien, beschloss ich, zu Thomas Hahn zu fahren und dann zu Markus Treffer. Ich musste mit jemand Normalem reden. Ich polterte mit der Hilux im Rückwärtsgang wieder auf die Straße, stieg aus, verschloss das Tor und schoss los. Marcela wollte nicht mit, sie hatte noch zu arbeiten. Ich beschloss, eine kleine Runde durchs Stadtzentrum zu machen. Alles war wieder ruhig, wahrscheinlich waren alle schon beim Saufen in irgendwelchen Hinterstuben. Vor Wilsons Büro zeugten nur die Scherbenhaufen von der Szene, die vor knapp einer Stunde dort stattgefunden hatte.
Die Passanten kauften ein, schlenderten durch den Park oder saßen in Cafés am Platz. Es war wie in allen Großstädten Lateinamerikas, wo die Demonstrationen auch immer ins Tagesgeschäft integriert wurden. Man schlenderte an knüppelnden Polizisten vorbei, nahm auch das Tränengas hin, kaufte weiter ein und lästerte mit bekannten Passanten über die verzogene Studentenjugend. Man tat im Großen und Ganzen so, als würde die Gewalt fünfzig Meter entfernt gar nicht existieren. Insofern musste man auch nichts ändern, wenn sie plötzlich vorbei war, es war ja schließlich nichts geschehen.
So auch in San Ignacio. Alles war wie vorher. Auch im Munizip, wo ich kurz vorbeischaute, gingen alle ruhig ihrer Arbeit nach. Es war gespenstisch. Ich beschloss, zuerst zu Markus Treffer zu fahren.
Markus war bereits vom Büro in La Paz benachrichtigt worden und packte schon seine Sachen. Wir setzten uns kurz zu einem Bier hin und ich erzählte ihm von Wilsons Rettung am Nachmittag.
»Ich hätte nicht gedacht, dass es so weit kommen würde. Trotzdem ist es übertrieben, uns hier abzuziehen.« meinte er.
»Eigentlich schon. Aber irgendwas hat das mit Wilsons Arbeit zu tun. Keiner von uns hat in irgendeiner Weise mit Politik oder den Spannungen zwischen den Gruppen hier zu tun, nur er. Außerdem hat er sich irgendwie eingemischt, ich durchschaue das nicht ganz. Auch, dass Peter Dijkstra so plötzlich abgeschossen wurde, kommt mir seltsam vor. Hans Radeberger ist eigentlich ein eher milder Chef.«
Unsere Unterhaltung wurde durch einen Anruf auf mein Handy unterbrochen, jetzt wurde auch mir mitgeteilt, dass wir abreisen würden. Ich kippte mein Bier runter und verabschiedete mich. Thomas Hahn war die Organisation der Abreise übertragen worden, also fuhr ich zu ihm, um zu erfahren, wer mit mir im Auto reisen würde.
Als ich ankam, war auch er mit Packen beschäftigt. Wir setzten uns auf seinen Hotelbalkon mit Blick zum Platz hin. Die Sonne neigte sich dem Horizont zu und der Platz lag friedlich und schön unter uns, mit seinen Palmen, Grünanlagen und spielenden Kindern. So, als wäre in den letzten Tagen nichts passiert und das Dorf wäre in seiner scheinbar unabänderlichen Verschlafenheit immer noch dasselbe.
»Du nimmst Rosemary mit. Hans meinte, du sollst Marcela fragen, ob sie nicht auch mit will, auch wenn sie nicht für den DED arbeitet.« sagte Thomas.
»Klar, ich glaube aber, sie wird bleiben wollen. Sie scheint völlig ruhig. Angst hab ich auch keine, wenn nur dieser verblödete Wilson nicht wäre. Nicht nur, dass er hier seine Nase in Dinge gesteckt hat, die ihn nichts angehen. Er wird auch immer seltsamer.«
»Ja, scheint mir auch so. Ich bin ihm gestern begegnet, da hat er wirres Zeug geredet. Irgendwas von Umsturz und Separation. Er wird alleine fahren. Ich habe das mit Hans besprochen.«
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