Fray Fausto wurde unterstellt, offen die MAS 11zu unterstützen, die Colla-Partei des Staatspräsidenten Evo Morales Ayma, und die Bewohner der ihm zugeordneten Comunidades zur Wahl derselben aufzurufen. Ich selber schlief zu dem Zeitpunkt noch, aber bald weckte mich Juán und nahm mich auf seinem Motorrad mit.
11Movimiento al Socialismo - Bewegung für den Sozialismus
»Die ganze Stadt ist in Aufruhr. Die sind in Lynch-Stimmung.«
»Fühlst du dich bedroht?«
»Nicht wirklich, Erwin hat heute Morgen öffentlich die Gewalt von gestern verurteilt und alle zur Ruhe aufgerufen. Außerdem war ich eben in der Bürgermeisterei, da waren alle normal zu mir.«
Dann erzählte er mir, was mit Fray Fausto geschehen war. Der war mittlerweile im Krankenhaus angekommen und wurde versorgt. Eine gebrochene Rippe, Schürfwunden an Gesicht und Hinterkopf.
Juán wollte kurz bei Don Fafafa vorbeischauen, um mit dessen Koch über den Gewürzgarten zu reden, die Oreganopflanzen hatten schlappgemacht. Das Anwesen Don Fafafas lag jenseits der Mautstation, an der in Fahrtrichtung nach Santa Cruz immer Geld abkassiert wurde. Rätselhaft wofür, wurden die zweihundert Kilometer Feldweg nach Concepción doch in keinster Weise gewartet, weniger noch geteert. Zu jener Zeit, während der Regenzeit im Mai, versanken die transkontinentalen Trailer aus und nach Brasilien kurz vor San Ignacio im roten Schlamm. Es entstanden regelrechte Camps von Steckengebliebenen. Die warteten dann teilweise bis zu drei Wochen, um wieder freizukommen. Es war ein echtes Chaos. Leichtere Fahrzeuge mussten teilweise über die Böschungen fahren, um an den quergestellten, festgefahrenen, bis zum gesattelten Container im Schlamm versunkenen LKWs vorbeizukommen.
Da die Burschen sich nicht von ihren Fahrzeugen entfernen durften, kam eben die Ware zu ihnen: Garküchen rückten an, Nutten, fahrbare Diskotheken sowie Alkohol- und Coca-Verkäufer. Die brasilianische Popmusik aus dem Hinterland lag wie ein permanenter Singsang-Schleier über der Szene jenseits der Mautstation.
Als wir der Mautschranke näher kamen, war dort schon wieder irgendein Tumult. Als wir etwa zweihundert Meter entfernt waren, hielt Juán an.
»Das ist das Comité Cívico. Und Don Edmundo läuft gerade wieder zu Hochform auf.«
Don Edmundo war ein Cousin von Hermann Rhön, der Oberschranze Erwins im Munizip, und sah ihm nicht unähnlich. Er war zum Zeitpunkt meiner Ankunft, vor nunmehr sieben Monaten, zum Präsidenten des Comité Cívico gewählt worden. Das Comité Cívico war eigentlich als eine Art Schlichterstelle konzipiert, die eher vermittelnd und integrativ auf die Lokalpolitik und ihre ständig aufkeimenden Konflikte wirken sollte. Dieses Ziel hatten sie offensichtlich aufgegeben. Don Edmundo Schrenz stakste mit erhobenem Blondschopf durch die Meute von Mithetzern und schrie irgendetwas von Boykott und Scheißpräsident. Mit ausladenden Armbewegungen trieb er seine Gefolgschaft an, die Mauthütte zu schleifen.
»Das ist doch auch die Unión Juveníl, die da mitmacht oder?« fragte ich, in Edmundos Pulk waren neben der aufgebrachten dunkelhäutigen Menge auch wieder die scheinbar unvermeidlichen Teenager mit Sneakers und Baseballkäppies erkennbar.
»Ja, die sind immer dabei. Edmundos Scharfmacher.«
»Und jetzt?« Edmundo hatte mit seiner Meute bereits das Mauthäuschen umgestürzt und die Polizei, die normalerweise dort die Maut abkassierte, stand in einiger Entfernung hilflos bis verunsichert herum und schaute zu, wie das Ding nun zertrümmert wurde. Von hinten kam ein Motorrad mit einem einfachen Polizisten und Subteniente Sigchá auf dem Rücksitz, es war der Polizist, der mich und Odile damals, nach der Rettungsaktion für den verletzten Polizisten, in Empfang genommen hatte. Juán machte kehrt und wir fuhren zurück in Richtung San Ignacio.
»Und Don Fafafa und der Oregano?« fragte ich Juán.
»Besser, wir hauen ab. Die sind jetzt zu allem fähig.« Ich spürte Panik in seiner Stimme.
»Was ist los Juán, ich kapier nicht, was hier eigentlich passiert.«
»Die wollen alle Collas hier loswerden und schüchtern sie ein.«
»Und was hat das mit der Mautstation zu tun?«
»Keine Ahnung. Ich muss zu meiner Familie. Kann ich dich an der Plaza lassen?«
»Klar, mach nur, kein Problem.« Ich spürte zunehmend, dass hier etwas Dramatisches dabei war, seinen Lauf zu nehmen.
Juán ließ mich an der südlichen Seite der Plaza Mayor absteigen und zischte ab. Ich durchquerte den Park der Plaza in Richtung Munizip. Ich war so in Gedanken versunken, dass ich erst gar nicht den nächsten Tumult bemerkte, der sich schon wieder an einer der Seitenstraßen im Norden der Plaza ereignete. Es war in der Straße, in der das Büro von Wilsons Partnerorganisation Fundación Tierra Libre lag. Genau genommen fand der Tumult direkt vor dessen Büro statt. Ich ging ein paar Schritte auf die Szene zu, um zu sehen, was genau los war. Durch die Säulen des Gebäudes konnte ich sehen, dass die Holzfensterläden von Wilsons Bürogebäude verschlossen waren. Es flogen bereits erste Bierflaschen gegen Fassade und Fensterläden des einstöckigen Hauses. Der Mob bestand aus derselben Mischung von angetrunkenen Jugendlichen und eifrigen Munizip-Cambas, wie bei der Szene an der Mautstation, nur diesmal geschah es unter der Leitung von Herrmann Rhön. Sein hochroter Kopf ragte aus der Menge und er schien gerade zu Hochform aufzulaufen. Als Herrmann aus dem Pulk trat, um eine Flasche Bier anzusetzen, ging ich zu ihm.
»Was ist denn hier los, Hermann?« fragte ich, gestellt naiv, denn es war mir mittlerweile klar, dass auch diese Aktion irgendwie gegen die Collas gerichtet war, beziehungsweise, dass für eine unabhängige Nación Camba demonstriert wurde.
»Es geht jetzt los, mein Freund. Wir machen jetzt Schluss mit denen.« Er war mindestens halbvoll. »Trink eins und wirf die Flasche!« Er holte eine Bierflasche aus den Kästen, die sie mitgebracht hatten, und hielt sie mir vor die Nase.
»Edmundo, wir dürfen uns nicht politisch engagieren, ich verliere meinen Job.« Ich nahm die Bierflasche. Ich verstand ihn kaum, das Gegröle und Flaschengeklirre waren ohrenbetäubend.
»Was soll der Scheiß, du bist doch einer von uns, oder?«
»Klar Hermann, ich hab aber eine Familie in Deutschland zu versorgen, wenn ich den Job verliere, komme ich in Schwierigkeiten.«
Er schaute mich schief an. Dann lachte er und schlug mir auf die Schulter. »Dann schau halt zu. Erwin kommt auch gleich.« Er wollte sich gerade abwenden, um wieder zu seinem Mob zurückzukehren, doch ich hielt ihn zurück.
»Sind da Leute drin, Edmundo?«
»Klar, die holen wir jetzt da raus!«
Ich musste an Wilson denken, fragte aber nicht weiter. Ich entfernte mich von der Szene so weit, dass man wieder telefonieren konnte, und rief Wilson an. Er antwortete sofort und brüllte in meine Hörmuschel.
»ROBERT, DIE WOLLEN UNS LYNCHEN!!!«
»Könnte sein. Bist du da drin?«
»KLAR BIN ICH DA DRIN!« schrie er weiter. »HOL MICH HIER RAUS!«
»Wie denn bitte, da sind fünfzig Verrückte vor deiner Tür!« Ich musste etwas schmunzeln. »Bist du alleine?«
»NEIN, VERDAMMTE SCHEISSE, DIE BEIDEN SEKRETÄRINNEN SIND BEI MIR. KOMM VON DER SEESEITE IN DEN GARTEN DES HAUSES, BEEIL DICH, ICH SCHEISS MIR GLEICH IN DIE HOSE!!!«
Ich rannte die fünfhundert Meter zu unserem Haus, holte die alte Hilux raus und röhrte über den City-Ring zum Staudamm, fuhr dann langsam das Seeufer entlang und versuchte herauszufinden, welche der weit oberhalb liegenden Häuserrückseiten zu Wilsons Büro gehörten. Schließlich sah ich Wilson hektisch winkend im Türrahmen einer kleinen Holztür in einer das hintere Gelände seines Bürogebäudes umgebenden Mauer stehen. Ich fuhr so weit heran, wie es ging, musste aber in gut fünfzig Meter Entfernung stehenbleiben. Zur Holztür führte ein Weg, auf dem mir Wilson, beladen mit Aktenstapeln, entgegengerannt kam. Die beiden Sekretärinnen folgten, ebenfalls schwer beladen.
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