Im Polizeipräsidium angekommen, wurden wir in eine zwei Stockwerke hohe und merkwürdig weitläufige Eingangshalle geführt, an deren Ende ein Uniformierter saß. Der Polizist, der uns abgeholt hatte, blieb strammstehend am Säuleneingang zurück. Wir traten vor sein einsames, im Saal völlig verlorenes Mini-Pult und begannen, ihm in kurzen Worten zu berichten, was passiert war. Er bat um meinen Ausweis, ich hatte keinen. Ich hatte nur ein Papier vom DED, welches bestätigte, dass mein Reisepass und mein ecuadorianischer Führerschein - mein deutscher Führerschein war mir im vergangenen Jahr wegen Alkohol am Steuer bereits zum zweiten Mal ziemlich definitiv abgenommen worden - sich im bolivianischen Außenministerium befanden, und dass das Papier hier für zwei Wochen meine Identität bestätigen sollte. Ich wies auf die abgedruckte Telefonnummer der DED-Zentrale für den Fall von Nachfragen hin. Der Typ schwieg und verschwand mit meinem Ausweisdokument. Ich suchte den Blick von Odile, sie warf mir immerhin mit einem Mundwinkel ein Lächeln zu. Ich ging auf sie zu und nahm sie in den Arm, sie vergrub ihr Gesicht in meiner Schulter.
Nach etwa zehn Minuten kam ein wichtigerer Typ. Mehr Auszeichnungen, mehr Selbstbewusstsein und dunkler Vollindianer. Zwei andere Polizisten begleiteten ihn. Wir wurden aufgefordert, ihnen zu folgen. Wir kamen in einen weiteren fast leeren, überdimensionierten Raum mit einem Minischreibtisch und einer Riesenschreibmaschine drauf. Wir sollten uns auf die beiden Hocker vor den Schreibtisch setzen.
»Señor Spreng,« - er sprach meinen Nachnamen richtig gut aus - »wir haben gerade mit dem Hospital telefoniert, obwohl der Kollege lebt, sieht es nicht gut aus für ihn. Er ist kaum transportfähig und braucht Blutkonserven, wir haben aus Santa Cruz welche geordert, eine Cessna ist bereits auf dem Weg hierher, vielleicht kommt er durch. Es kommt auch ein Chirurg.«
Er drehte seine Beine zur Seite und streckte sie überkreuzt aus. Der Schreibtisch war zu klein, als dass man darunter Beine hätte ausstrecken können. Er schwieg eine Weile, der Raum war erfüllt vom Summen unzähliger Fliegen. Odile bat leise um Wasser, woraufhin er seinem Unterpolizisten befahl, zwei Flaschen Mineralwasser zu bringen. Mir war aber nach Alkohol, also bat ich um einen Schluck Hochprozentiges, worauf er die Schreibtischschublade aufmachte und eine etikettlose Glasflasche plus zwei Plastikbecher rausholte. Er schenkte großzügig in beide Becher ein, ich kippte mein Ding gleich weg, er schenkte nach. Dann stieß ich mit ihm an, ich haute den zweiten weg, er den ersten. Das war schon besser.
Er schwieg und ich fing an, nachzudenken. Mir fiel ein, dass ich mich bei der DED-Zentrale hätte melden müssen, um nach Handlungsanweisungen zu fragen. Hans Radeberger, den DED-Chef, hatte ich wegen seiner Abwesenheit bei meiner Ankunft noch nicht kennengelernt. Peter Dijkstra wollte ich nicht anrufen, er hätte eh nur tuntiges Geschwafel abgelassen. Der Schnaps machte sich in meinem Körper breit und mir wurde es egal. Schließlich beugte sich der Oberpolizist nach vorne und startete.
»Señor Spreng, wie wir mittlerweile wissen, sind Sie Berater für den Deutschen Entwicklungsdienst. Ihre Organisation hat unserer geliebten Stadt San Ignacio in der Vergangenheit - und ebenso in der Gegenwart - sehr geholfen. Und ehrlich gesagt, und dies ganz ehrlich, glauben wir kaum, dass Sie irgendetwas mit dem offensichtlich heute Vormittag Vorgefallenen zu tun haben, da gibt es wirklich kaum Zweifel. Andererseits haben Sie den Tatort nicht unerheblich durcheinandergebracht. Das ist ein Delikt. Wollen Sie, dass ich ins Detail gehe?« Ich erinnerte mich, einem Toten über die Beine gefahren zu sein, aber ansonsten …? Ich wollte ihn unterbrechen, um klarzustellen, dass ich vielleicht einem Polizisten das Leben gerettet hatte, aber zwecklos - er fuhr seine Hand aus und gebot mir Schweigen. Ihn zu fragen, warum er das alles nur eine Stunde nach unserem Eintreffen am Tatort bereits wusste, kam mir nicht in den Sinn.
»Sie werden jetzt ohne Zweifel anführen, dass Sie einem unserer Kollegen eventuell dazu verholfen haben, sein Leben weiterzuführen, auch wenn dies unter den gegebenen Umständen zweifelsfrei nicht ohne Weiteres möglich sein wird. Ich rede von dem Fall, dass er überlebt. Andererseits leben wir hier in Bolivien mittlerweile in einem modernen Staat. Es muss jedem Rechtsbruch zweifelsfrei auf den Grund gegangen werden, da dürfen keine Zweifel bestehen. Unser Präsident führt uns in eine neue, vielversprechende Zukunft und, ich muss Ihnen das ganz klar sagen, auch Ausländer müssen sich diesem Recht beugen, ganz ehrlich.« Mit den Worten ›ehrlich‹ und ›zweifelsfrei‹ hatte er es.
»Nehmen Sie noch einen?« fragte er zuvorkommend. Mir war alles scheißegal, als Fatalist machte ich mich auf das Schlimmste gefasst, also warum nicht noch einen hinter die Binde? Er schenkte erst sich selbst ein und dann mir. Odile wurde offensichtlich langsam fitter, denn sie legte den Kopf beiseite und schaute mich mit hochgezogener Augenbraue an. Dann wandte sie sich ab und trank ein paar tiefe Schlucke aus ihrem Mineralwasser. Ich kippte den Fusel runter und schaute geradeaus. Er bemerkte ihren Blick und fasste ihn als provokant sich gegenüber auf. Ich wusste nicht, was Odile mit ihrem Blick meinte, vielleicht war sie der Ansicht, ich sollte nicht zu viel Schnaps trinken.
»Verehrte Dame,« wandte er sich schleimig an Odile, »zu Ihnen kommen wir gleich noch.« Er kicherte blöde.
»Kann ich rauchen, bitte?« fragte ich.
»Wissen Sie, Señor Spreng, dass Rauchen schädlich ist?«
»Ist mir egal, darf ich?«
»Ich mache eine Ausnahme, wissend, dass Sie heute Vormittag eine für uns alle sehr unangenehme Situation erleben mussten. Machen Sie nur.« Ich zog mir eine raus, reichte Odile die Zigaretten.
Zum ersten Mal schaute ich bewusst auf das Namensschild an seiner Brusttasche. Subteniente Sigchá stand da draufgestickt. Nach fünf Jahren Aufenthalt in Ecuador wusste ich immerhin so viel, dass dieser Mann aus dem Hochland kommen musste, es war ein Quechua-Nachname. Er war also Colla, wie die Hochlandbewohner hier unten im Tiefland genannt wurden. Und dann noch sein hochgeschwurbeltes Spanisch, mir wurde klar, warum er den Präsidenten so positiv erwähnte. Ich nutzte die Pause, mein Moment zu reden war gekommen, fand ich.
»Sehen Sie, Subteniente Sigchá, wissen Sie, Sie haben recht, das war wirklich sehr aufreibend heute. Ich muss Ihnen ehrlich, aber ganz ehrlich sagen, dass ich dergleichen in meinem Leben noch nicht gesehen oder erlebt habe. Ich war und bin völlig verwirrt. Ganz zu schweigen von meiner Begleiterin, …« er wollte die Hand heben, doch ich wurde beim Weiterintonieren kurz mit der Stimme lauter und hatte ihn dadurch zum Schweigen gebracht. Dann fuhr ich mit ruhigerer Stimmlage fort: »… die immer noch völlig perplex ist, zweifelsfrei und ganz ehrlich. Für uns ist das sehr schwierig, auf eine solche Weise in ihrem doch bekanntermaßen so gastfreundlichen Land willkommen geheißen zu werden. Wissen Sie, ich würde gerne erst mal mit dem Bürgermeister telefonieren. Ich nehme an, Sie haben ihn von den Vorgängen heute Vormittag in Kenntnis gesetzt?«
»Der Bürgermeister ist verreist.« meinte er knapp, weniger blumig. Er lehnte sich zurück, steckte sich ein Streichholz in den Mund und faltete die Hände im Nacken.
»Ist mir egal, Teniente, rufen Sie da bitte an und sagen Sie halt dem vertretenden Bürgermeister, dass Robert Spreng, neuer Verantwortlicher des Deutschen Entwicklungsdienstes für die lokale Wirtschaftsentwicklung in San Ignacio, eingetroffen ist und gleichzeitig gerade festgehalten wird, weil er versucht hat, einem im Sterben liegenden Polizisten das Leben zu retten. Sagen Sie dem Stellvertreter des Bürgermeisters bitte, dass ich mäßig zufrieden bin über den mittelhöflichen und mittel-angemessenen Empfang seitens der Polizei, und ich möchte jetzt sehr gerne in medias res gehen.« Ich wusste selber nicht, was ich mit dem letzten Teil meinte. Die Vorlage war trotzdem deutlich und ich hatte mir einen taktischen Vorteil erarbeitet. Er beugte sich nach vorne über seinen Schreibtisch und bediente die Tastatur seines Handys.
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