Als wir zurück zum Platz kamen, war es dreiundzwanzig Uhr und wir setzten uns auf Odiles Vorschlag hin noch auf eine Bank. Wir redeten nichts. Ich fühlte das starke Bedürfnis, ihr nahe zu sein, so dass es mir wieder einmal die Sprache verschlagen hatte. Sie zündete sich eine Zigarette an, ich dachte darüber nach, ob ich sie berühren sollte. Als sich ihre linke Hand kurz zwischen unsere Schenkel auf die Bank legte, legte ich meine darüber und suchte ihren Blick. Ihre Hand blieb reglos, schließlich wandte sie sich mir zu. »Ich bin kompliziert, Robert, bitte entschuldige.«
Das war's also erst mal, dachte ich mir, streckte meine Beine aus und legte meine Unterarme angewinkelt auf die Rücklehne der Bank. Nach einem weiteren Moment sagte sie, sie wolle zurück ins Hotel. Wir verließen den Platz, kamen ins Hotel und gaben uns einen Gutenachtkuss auf die Wange, ich tat einen Teufel, ihr dabei meine Hände auf die Hüfte zu legen.
Ich hasste es, zurückgewiesen zu werden, deshalb hatte ich immer so Schiss, in Gefühlssachen offensiv zu sein. Als ich in mein Zimmer kam, hörte ich in der Ferne Donnern, und als ich aus dem Fenster sah, blitzte der Himmel am Horizont in Abständen hell auf. Die Abstände zwischen Donner und Blitz waren aber noch sehr lang.
Mein Kopf war leer, ich duschte und legte mich danach nackt und nass aufs Bett, das brachte Erleichterung bei der drückenden, schweren Hitze, die jetzt am Abend, der eigentlich Abkühlung versprechen sollte, immer noch zu zunehmen schien. Ich nahm einen tiefen Schluck aus der Rumflasche und schlief irgendwann schwitzend ein.
Mitten in der Nacht wurde ich von einem Granatendonner geweckt. Donner und Blitz kamen zeitgleich. Ich stand auf, ging zum Fenster und schob die Moskito-Gardine beiseite. Der Regen prasselte so dicht herab, dass ich kaum die nur fünf Meter entfernte Fensterfront des Haupthauses sehen konnte. Ich warf mir ein Handtuch um die Hüfte und ging ins Freie. Meine Umgebung erhellte sich für kurze Momente grell im Schein der Blitze. Ich stellte mich an eine Stelle des Innenhofes, die nicht von allen Seiten aus einsehbar war, und ließ den Regen auf mich schütten. Die Luft war warm, der Regen war warm, ich fror nicht. Wo schlief oder wachte Odile? Ich hatte nicht darauf geachtet. Ich stand eine ganze Weile so da und ließ mich vollregnen. Ich genoss das Gefühl der schweren, warmen Tropfen, die mir ins Gesicht pladderten. Als das Ganze sich zu beruhigen schien, ging ich zurück ins Zimmer, trocknete mich ab und legte mich wieder aufs Bett. Der Regen hörte nicht auf, schwoll an, ebbte ab …
Am kommenden Morgen weckte mich Odile übers Handy, der Regen hatte aufgehört, die Luft draußen war dampfig. Sie fragte, ob ich zum Frühstück kommen wolle. Ich zog mich an, ging raus und setzte mich an den Tisch, an dem sie saß und frühstückte. Am Buffet gab es nur süßes Zeug, also ließ ich es mit dem Essen bleiben und goss mir nur Kaffee ein. Tee wäre mir lieber gewesen, aber es gab nur Coca-Tee. Ich gab mich wortkarg, bis sie schließlich meinte:
»Ich wäre gestern Nacht gerne zu dir rausgekommen.«
»Was?«
»Ich habe dich gesehen. Du bist ein schöner Mann, und dass du es nicht weißt oder so tust, als wüsstest du das nicht, macht dich noch attraktiver. Beinahe wäre mir alles egal gewesen und ich wäre nackt zu dir rausgekommen.«
»Warum hast du's nicht getan?«
»Weil wir dann miteinander geschlafen hätten und das will ich nicht. Noch nicht.«
»Weißt du was, Odile, du kannst mich am Arsch lecken.«
»Vielleicht mach ich das sogar noch.« Sie lächelte mich an, ganz natürlich, mit ihren wunderschönen grünen Augen. Ich versuchte mal wieder, nicht auf ihre Glocken zu schauen. Sie schien sich ihrer Sache sehr sicher zu sein. Nicht, dass mir diese Art missfiel, ich war nur nicht am Drücker und das machte mich unsicher. Ich entschied, vorerst Distanz zu wahren, was nicht einfach werden würde, denn ich war bereits in sie verknallt.
Sie aß noch irgendwelchen Müslikram, ich stand auf, ging in mein Zimmer und packte den Waschbeutel, schmiss ihn in den Rucksack und den wiederum ins Auto. Sie brauchte noch mehr Zeit, also ging ich auf die Straße und rauchte erst eine und dann noch eine Zigarette. Sie kam immer noch nicht, also trank ich in dem gegenüberliegenden Laden ein Bier. Schließlich winkte sie mir von der Rezeption aus zu und ich ging wieder in den Innenhof des Hotels. Wir zahlten, bedankten uns bei Doña Lupita, bestiegen wortlos das Auto und verließen Concepción in Richtung San Ignacio.
Nach Concepción war die Straße noch etwa fünfundzwanzig Kilometer asphaltiert, mehr oder weniger. Dann sollten etwa zweihundert Kilometer rote Erde folgen. So fuhren wir und fuhren und redeten fast nichts. An der Stelle, an der der Asphalt in Erde überging, sah ich ein Eingangsportal zu einer Hazienda. Das riesenhafte hölzerne Namensschild hing schief, es stand eingekerbt darauf geschrieben: ›La Dolorida‹. Hinter dem offen stehenden Portal bahnte sich ein Feldweg einen Hügel hinauf und verschwand dahinter im Nichts.
Ich war sauer auf mich. Ich hatte das Gefühl, Odile gegenüber zu viel von mir preisgegeben zu haben, obwohl ich das, rational gesehen, nicht getan hatte. Ich wurde mir nur einfach gewahr, dass sie eine Riesenpersönlichkeit war. Ich hatte den tiefen Wunsch in mir, mit ihr tagelang zu vögeln. Und mir den Arsch von ihr auslecken zu lassen. Bei dem Gedanken musste ich leise lachen.
»Warum lachst du?« fragte sie.
»Ich denke ans Arschlecken.«
»Ich auch.« Wir mussten jetzt beide lachen, es war befreiend. Wir durchfuhren mehrere Senken mit langgezogenen Pfützen, an denen Myriaden von Schmetterlingen saßen, die im Näherkommen aufstoben und gelbe oder auch blaue Wolken bildeten.
»Wie schön das ist …« sagte sie verträumt mit leiser Stimme.
Das Gelände wurde flacher, die Straße machte eine langgezogene Biegung. Und dann kam es, ich kapierte erst nicht, was los war. Zunächst sah ich nur einen in der Mitte der Straße quergestellten Polizeijeep. Fast zeitgleich sah ich die dunkel uniformierten, grotesk verkrümmten Körper um das Gefährt herum liegen. Ich bremste ab und fuhr Schritttempo. Dann sah ich einen zweiten Polizeijeep, halb im Gebüsch weiter hinten, volles Rohr gegen einen Baum gesetzt. Aus der offenen Fahrertür lehnte sich leblos ein uniformierter Typ. Ich brachte das Auto zum Stehen, die Szene war noch etwa fünfzig Meter entfernt.
»Was ist denn das für eine Dinosaurierscheiße?!« hörte ich mich fragen. Odile sagte nichts, saß nur kreidebleich da. Ich ließ das Fenster runter, von draußen hämmerte das ohrenbetäubende Sirren der Zikaden und die unmenschliche, trockene Hitze ins klimatisierte Auto. Ich öffnete die Tür und stieg aus. Das Grauen stieg unaufhaltsam in mir auf. Ich verspürte Kackreiz. Odile blieb regungslos im Auto sitzen. Seit unserer Abfahrt aus Concepción war uns kein Auto entgegengekommen, wir mochten etwa fünfzig oder auch achtzig Kilometer gefahren sein.
Ich horchte, ob irgendein Motorgeräusch zu hören war. Nichts, nur die kreischenden Zikaden. Ich ging an den Straßenrand und kletterte die leichte Böschung hinauf, riss die Hose runter und schiss - ich muss immer scheißen, wenn sich unerwartet der Horror auftut. Ich war es gewohnt, mir den Arsch mit Wasser abzuwaschen, jetzt mussten es zwei zerknüllte Tempos tun. Toll, dass du dafür Zeit hast!, sagte ich mir. Als ich zurück zum Auto kam, war Odile ausgestiegen und kotzte zwischen Auto und Beifahrertür. Der Wind wehte den rostigen Gestank frischen Blutes heran.
»Ich geh jetzt da hin!« hörte ich mich sagen.
Sie röchelte und würgte, gab aber keine Antwort. Mechanisch setzte ich einen Fuß vor den anderen, zuerst langsam, dann sicherer. Ich hielt den Blick seitwärts gerichtet, konnte kaum auf die herumliegenden Polizisten schauen. Als ich beim Ersten ankam, blieb ich stehen, beugte mich zu ihm runter und griff ihm an den Hals, mein Blick wollte sich immer wieder abwenden. Auch wenn es mit ca. 35°C Lufttemperatur krachheiß war, war die Sachlage ziemlich klar. Denn selbst, wenn man in seinem Leben noch keine toten Körper angefasst hat, spürt man den Tod bei Berührung sofort, auch wenn die Leiche noch warm ist. Der Typ hatte eine kugelsichere Weste an, die ihn jedoch vor dem Kopfschuss nicht bewahrt hatte. Ein kleines Rinnsal Blut floss in eine immer größer werdende, sich ihren Weg bahnende Pfütze neben seinem Kopf. Auf der Pfütze bildete sich bereits eine schwarze Kruste. Aus einer kleinen Flucht bahnte sich das hellrote Blut darunter weiter seinen Weg, irgendwohin ins Nichts, der Lebenssaft. Dicht daneben ruhte sein Käppi. Viel Zeit war nicht vergangen seit dem Ereignis, was auch immer geschehen sein mochte.
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