Es war inzwischen fast dunkel geworden. Travniczek ging noch einmal ins Wohnzimmer, setzte sich auf die Couch und blickte hinaus in Richtung der untergegangenen Sonne. Er ließ seinen Gedanken freien Lauf, und endlich kam ihm auch wieder sein Sohn in den Sinn. Er griff zu seinem Handy, um ihn anzurufen. Doch gerade, als er die Nummer aufgerufen hatte, sah er über den Bächenbuckel ein Auto herauffahren, das keine fünfzig Meter vor dem Wendlandthaus hielt. Er legte das Handy beiseite und sah gespannt hinaus. Ein Mann stieg aus und näherte sich geradewegs dem Haus. Er blickte dabei ständig um sich, wollte offensichtlich nicht entdeckt werden. Was hat der wohl vor, fragte sich Travniczek und vergaß seinen Sohn. Der Mann verschwand aus seinem Blickfeld und musste jetzt vor der Haustür stehen. Wird er läuten? Aber es blieb still. Doch der Mann tauchte nicht wieder auf. Wo war er geblieben? Nach vielleicht einer Minute durchquerte Travniczek tief geduckt das Wohnzimmer und sah in den ansteigenden Garten mit den schlanken Zypressen. Da bewegte sich ein dunkler Schatten. Das musste er sein! Was suchte er hier?
Travniczek schlich zur Zimmertür und eilte die Treppe hinunter nach draußen. Vorsichtig ging er um den Wohntrakt herum und blieb an der Hausecke stehen. Der Mann musterte intensiv das Haus.
Travniczek zog und entsicherte seine Dienstwaffe und schlich sich von hinten an den Mann heran. Als er nur noch wenige Meter von ihm entfernt war, rief er laut: „Polizei! Bleiben Sie stehen! Was suchen Sie hier?“
Erschrocken sah sich der Mann um, reagierte aber schneller als erwartet. Noch ehe Travniczek ihn erreichen konnte, rannte er mit schnellem Antritt Richtung Atelier und der Hauptkommissar hinterher. Der Flüchtende hatte aber nicht damit gerechnet, dass mit dem Atelier das Grundstück abschloss, der Gartenzaun also direkt mit ihm verbunden war. Er saß damit in der Falle. Mit einem mächtigen Sprung versuchte er, das Hindernis zu überwinden. Aber er sprang nicht hoch genug, blieb hängen und schlug auf der anderen Seite so heftig auf dem Boden auf, dass er zunächst benommen liegenblieb. Schnell kletterte Travniczek über den Zaun, sprang dem Mann auf den Rücken und legte ihm Handschellen an.
„So, jetzt laufen Sie mir nicht mehr weg. Sie sind vorläufig festgenommen, mindestens so lange, bis Sie plausibel erklärt haben, was Sie hier suchen. Stehen Sie bitte auf. Übrigens, ich vergaß, mich vorzustellen: Joseph Travniczek, Chef der Heidelberger Mordkommission. Kommen Sie!“
Travniczek half ihm auf die Beine und leuchtete ihm mit seiner Taschenlampe ins Gesicht. Er hatte ein paar Schrammen an der Stirn, schien sich aber nicht ernsthaft verletzt zu haben. Seine blank polierte Vollglatze glänzte im Licht der Taschenlampe. Die kleinen, engstehenden Augen in dem runden Gesicht mit dünnen Lippen und kurzem, ergrautem Schnurrbart blickten ihn ängstlich und auch etwas dümmlich an. Mit einer solchen Begegnung hatte er hier wohl überhaupt nicht gerechnet. Der Kommissar schätzte ihn auf Anfang fünfzig. Er drehte ihn kurzerhand um und sagte: „Wir gehen jetzt ins Haus, und dort erklären Sie mir, was Sie hier zu suchen haben.“
Travniczek öffnete die Haustür und machte Licht. Unsanft packte er ihn am rechten Oberarm und schob ihn die Treppe hinauf ins Wohnzimmer, wo er ihn auf einen der Rattanstühle setzte und eine Stehlampe anknipste.
„Ihr Name, bitte“, begann der Kommissar das Verhör.
„Dr. Benjamin Hagedorn“, antwortete der Mann verschüchtert.
„Oh, sogar ein Doktor! Können Sie sich ausweisen?“
„Ja, natürlich, in meinem Portemonnaie in der hinteren Hosentasche ist mein Personalausweis. Da komme ich aber so nicht ran.“ Er fuchtelte hilflos mit seinen gefesselten Händen. Travniczek sah nach und fand Portemonnaie und Ausweis.
„Also, ich nehme Ihnen die Handschellen jetzt wieder ab“, meinte Travniczek lächelnd. „Ich habe den Eindruck, Sie sind vernünftig genug, nicht noch einmal zu versuchen wegzulaufen. Es würde Ihnen auch beim zweiten Mal nichts bringen.“
Sehr erleichtert antwortete Hagedorn beflissen: „Ja, gewiss, natürlich. Mir ist die ganze Sache ohnehin furchtbar peinlich.“
„Das will ich hoffen.“
Als der Kommissar die Handschellen gelöst hatte, streckte sein Gefangener erleichtert die Hände nach vorne und probierte mehrmals, ob sich noch alle Finger richtig bewegen ließen.
„Was sind Sie von Beruf?“
Der Mann bekam einen roten Kopf und blickte verlegen zu Boden. „Äh – Rechtsanwalt.“
„Oh, das überrascht mich jetzt aber doch!“, entgegnete Travniczek und musste lachen. „Ich bin ja schon über zwanzig Jahre im Geschäft. Aber einen Anwalt, der nachts auf fremden Grundstücken herumschleicht, habe ich noch nie festgenommen. Und jetzt erklären Sie mir bitte, was suchen Sie hier eigentlich?“
Ohne auf die Frage des Kommissars einzugehen, entgegnete er sehr erregt: „Stimmt es, dass Frau Wendlandt tot ist? Ich habe vorhin gehört, sie ist ermordet worden, und das hat mich völlig aus dem Gleichgewicht gebracht. Ich wusste nicht, wie ich damit umgehen soll.“
„Verehrter Herr Hagedorn, die Fragen stelle hier ich. Aber ich schließe aus Ihrer Frage, dass Sie Frau Wendlandt kennen. In welcher Beziehung stehen Sie zu ihr?“
Etwas zögerlich antwortete der Rechtsanwalt: „Das ist ziemlich kompliziert und schwierig, in Kürze darzustellen.“
„Ich habe heute Abend nichts mehr vor. Sie haben alle Zeit der Welt, mir das in Ruhe zu erklären.“
Hagedorn hielt eine Weile inne und versuchte, seine Gedanken zu sortieren. „Also, wenn Sie mich fragen, ob ich sie kenne, dann antworte ich besser: Ich kannte sie. Wir haben fast die ganze Studienzeit zusammen verbracht, bis zum Doktorexamen. Das waren die Jahre 1985 – 1990. Aber wir waren kein Paar. Wir waren Studienkollegen, vielleicht sogar Freunde, aber mehr war nicht.“
„Also, ich verstehe überhaupt nicht“, unterbrach ihn Travniczek kopfschüttelnd, „was das mit Ihrem Auftritt hier zu tun haben soll.“
„Ich sagte ja, es ist schwierig. Also, ich will ehrlich sein: Als ich Angela damals vor jetzt mehr als fünfundzwanzig Jahren zum ersten Mal gesehen habe, … ich sag das jetzt einfach so, auch wenn Sie mich auslachen: Es war bei mir Liebe auf den ersten Blick. So einer fantastischen Frau war ich noch nie begegnet. Ich war mir sofort sicher, das ist die Frau meines Lebens. Die muss ich heiraten, um glücklich zu werden. Aber als wir uns dann etwas näher gekommen sind, hat sie geblockt. Sie wollte nicht mehr als Kameradschaft. Ich habe alles Mögliche versucht, um sie ganz zu gewinnen. Ohne Erfolg. Ich bin mir ganz sicher, das lag nur an dieser blödsinnigen streng katholischen Erziehung. Diese Pfaffen haben ihr den Kopf verdreht. Es gab keinen Anderen. Und ich bin mir genauso sicher, sie hat mich eigentlich auch geliebt.“
Travniczek hatte das Gefühl, Hagedorn erzählte von etwas, das gerade erst passiert war. Diese alte Geschichte – schließlich war das dreiundzwanzig Jahre her – hatte er offenbar überhaupt noch nicht verarbeitet.
„Und wie ging das weiter?“
„Kurz nach dem Doktorexamen hatte ich sie dann aber doch so weit. Wir kamen uns näher.“
„Wie nahe?“
„So nah wie möglich! Wir haben miteinander geschlafen, um direkt zu sein.“
„Und dann?“
„Dann? … Dann … war alles vorbei.“ Hagedorn war dem Weinen nahe.
„Was heißt, ‚war alles vorbei‘?“, fragte ihn der Kommissar, um ihn etwas zu beruhigen.
„Sie war nicht mehr bereit, mit mir zu reden. Vielleicht hat sie sich überrumpelt gefühlt oder die Pfaffen haben sie wieder kirre gemacht. Denn ich weiß, dass sie es genossen hat. Kurze Zeit später war sie dann plötzlich verschwunden. Einfach weg. Niemand wusste, wohin. Die Eltern sagten was von einer Weltreise. Das habe ich nie wirklich geglaubt. Aber wie gesagt, sie war weg. Ich musste ja irgendwie weiterleben und das war schwer, kann ich Ihnen sagen, sehr schwer. Kaum zu schaffen. Ich habe durchaus auch überlegt, Schluss zu machen, vor den Zug zu springen, aber dazu war ich dann doch nicht in der Lage.
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