„Was ist mit den Kindern?“, fragte die Oma sofort.
„Sie haben großartige Enkel“, entgegnete Martina Lange.
„Ich glaube, die ertragen das Geschehen besser als wir Erwachsenen. Wie ist es bei Ihnen?“
Brombach antwortete: „Herr und Frau Ricardi waren so freundlich, mir trotz der schweren Lage schon einige Fragen zu beantworten, und ich denke, wir sollten sie jetzt in Ruhe lassen. Ich erzähle dir danach das Wichtigste.“
„Können wir Sie denn allein lassen?“, fragte Martina Lange. „Wenn Sie wollen, können wir Ihnen jemand schicken, der oder die heute Nacht bei Ihnen bleibt und weiß, wie man in solchen Krisensituationen helfen kann.“
Frau Ricardi wollte davon erst gar nichts wissen, aber ihr Mann meinte: „Isabella, ich glaube, wir sollten uns nicht scheuen, dieses Angebot anzunehmen. Wer weiß, wie die Kinder die Nacht überstehen. Ich kann das vielleicht auch nicht aushalten.“
Ohne weitere Worte abzuwarten, ging Martina Lange auf den Flur und rief beim Kriseninterventionsteam an. Sie bekam die Zusage, dass in spätestens einer Stunde jemand vorbeikäme. Das sagte sie den Ricardis und sie verabschiedeten sich schnell.
Erleichtert, diesen schwierigen Gang einigermaßen überstanden zu haben, stiegen sie in Brombachs Porsche. Keiner von beiden schien reden zu wollen. In Neckargemünd bog Brombach plötzlich rechts in die Altstadt ab.
„Dort vorne kenne ich eine gute Pizzeria. Ich habe seit zehn Stunden nichts mehr gegessen und außerdem – ich kann jetzt noch nicht allein sein.“
Die Kollegin sah ihn dankbar an. „Mir geht es ähnlich. Lass uns dort reingehen.“
Brombach parkte. Es war schwülwarm. Wahrscheinlich würde es später in der Nacht noch ein Gewitter geben. Sie gingen einige Schritte weiter bis zum „Ristorante Roma“ und stiegen über eine Steintreppe zur Terrasse hinauf, wo noch viele Gäste beim Essen saßen. Sie beschlossen, auch draußen zu bleiben und fanden einen Platz, von dem aus sie auf die Straße vor dem Restaurant hinuntersehen konnten. Schnell kam ein Kellner, entzündete die Kerze auf ihrem Tisch und fragte nach ihren Wünschen. Sie bestellten Pizza und einen halben Liter Chianti. Eine Weile saßen sie einander gegenüber, ohne zu sprechen, beide mit ihren Gedanken beschäftigt, bis Martina plötzlich fragte: „Wie ging das denn mit den alten Ricardis weiter, während ich bei den Kindern war?“
Michael war froh, dass Martina ein Gespräch begonnen hatte.
„Ich war schon erstaunt, wie schnell sich die beiden alten Leute dann doch gefangen haben. Anfangs dachte ich, dass wir zumindest sie in die Klinik bringen müssten. Aber dann schien es ihnen gut zu tun, von ihrer Tochter zu erzählen. Sie war wohl ein ganz besonderes Wunschkind: Zwölf Jahre hatten sie auf sie warten müssen. Dann war von der Geburt bis zum juristischen Doktor summa cum laude alles eitel Sonnenschein. Streng katholisch ist sie aufgewachsen und hat sich als Kind wohl in eine von Feen und Engeln bevölkerte Fantasiewelt hineingeträumt.“
„Glaubst du das?“, unterbrach ihn Martina. „Bei solchen vollkommen positiven Schilderungen gehen bei mir sofort alle Warnlampen an.“
„Nun ja, sicher ist da auch das ein oder andere Problem unter den Tisch gefallen. Aber es ging nicht so weiter. Kurz nach dem Doktorexamen gab es wohl einen Bruch. Ihre Tochter sei plötzlich völlig verstört gewesen und dann von einem Tag auf den anderen spurlos verschwunden. Einige Wochen später kam eine Ansichtskarte aus Paris, mit dem Hinweis, sie müsste mal aus allem raus und hätte eine Weltreise begonnen. Alle paar Wochen kamen dann weitere Karten aus den verschiedensten Metropolen der Welt. Und nach einem Jahr war sie plötzlich wieder da, ohne ihr Kommen anzukündigen. Sie hat sich beharrlich geweigert, irgendetwas von dieser Reise zu erzählen.
Sie hat sich dann mit voller Energie in den Richterberuf gestürzt, ist schneller als die meisten Kollegen die Karriereleiter hinaufgeklettert. Aber die Eltern fürchteten schon, sie würde ledig bleiben, nachdem von einem langjährigen festen Freund nach der Reise keine Rede mehr war. Nach fünf Jahren hat sie dann diesen Wendlandt kennengelernt und bald geheiratet. Und dann war wohl wieder alles eitel Sonnenschein. Ich habe die Altchen natürlich auch gefragt, ob sie irgendeine Idee hätten, warum jemand ihre Tochter umbringen wollte. Da konnten sie sich zunächst gar nichts vorstellen. Doch er berichtete dann, vor etwa einem halben Jahr hätte sie sich plötzlich verändert. Sie klagte über Müdigkeit und war oft schlechtgelaunt, so dass sich die Kinder schon bei den Großeltern beschwert hätten. Die konnten keinen Grund für diese plötzliche Wesensänderung erkennen. Ihre Tochter sagte nur, sie sei überarbeitet und müsse dringend eine längere Auszeit nehmen. Aber der alte Ricardi war sicher, dass das allein nicht der Grund für ihr Verhalten gewesen sein konnte. Was immer dahinter stecken mag, ich denke, das sind erste Ansatzpunkte für unsere Ermittlungen.“
Inzwischen hatte der Kellner die Pizzen serviert und sie bestellten noch eine zweite Karaffe Chianti. Ihr Gespräch löste sich allmählich vom aktuellen Fall. Martina erzählte ausführlich und begeistert von ihrem gerade erst vergangenen Urlaub auf den Philippinen, wo sie auf vielen Tauchgängen Fantastisches erlebt hatte. Michael berichtete von einer Mittelmeerkreuzfahrt, wo er zwar unglaublich viel Neues und Hochinteressantes gesehen hatte, wo es ihm aber auch immer wieder viel zu eng geworden war, weshalb er in Zukunft von solchen Unternehmungen Abstand nehmen wollte.
Später kamen sie auf aktuelle politische Ereignisse zu sprechen, die Absurditäten der Eurorettung, die nicht richtig funktionierende Energiewende, und blieben lange bei der Situation im Nahen Osten, dem unlösbaren Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern, dem Arabischen Frühling und nicht zuletzt den Schrecken des Bürgerkrieges in Syrien.
Irgendwann waren sie beim neuen Papst gelandet und der Frage, welche Hoffnungen man tatsächlich in ihn setzen konnte. Sie empörten sich gemeinsam über eine doppelbödige kirchliche Sexualmoral, die vergewaltigte Frauen zwingen will, Schwangerschaften durchzustehen, aber Missbrauchsvorwürfe gegen Geistliche eher herunterzuspielen versucht und sich bei Entschädigungen für Opfer knauserig zeigt. Hier streifte Martina noch einmal ihren Besuch bei den Ricardis. Beeindruckt erzählte sie davon, wie die wohl streng katholische Erziehung den Kindern einen sicheren und einfachen Glauben vermittelt hatte, der ihnen jetzt half, den Tod ihrer Mutter zu verkraften.
Während die vierte Halbliterkaraffe Chianti langsam, aber sicher zur Neige ging, gaben sie sich dem immer wiederkehrenden Blues ihres Kriminalistenlebens hin, einem Leben, das zwar äußerst spannende Herausforderungen bot, aber auch sehr einsam machte, weil es zu wenig Privatleben zuließ.
Als dann der Chef des Hauses zu ihnen an den Tisch kam und sie freundlich bat zu zahlen, da er jetzt doch endlich schließen wollte, stellten sie verblüfft fest, dass es bereits nach eins war und sie wohl schon seit geraumer Zeit allein auf der Terrasse saßen. Es kam noch zu einem kleinen Disput, weil Michael unbedingt die komplette Rechnung übernehmen wollte, was Martina strikt ablehnte. Als sie sich dann erhoben, fühlten sie sich etwas unsicher auf den Beinen. Die vier Karaffen Chianti hatten ihre Wirkung nicht verfehlt.
Michael maß dem keine weitere Bedeutung zu und wollte unbedingt ins Auto steigen, Martina nach Hause bringen und dann noch zu seiner Wohnung in die Weststadt fahren. Sie musste ihre ganze Überzeugungskraft aufbieten, damit er einsah, dass ein Kriminalist seine Autorität verlieren würde, wenn ihm wegen Trunkenheit am Steuer die Fahrerlaubnis entzogen wird. Sie schlug vor, mit einem Taxi zu ihr nach Ziegelhausen zu fahren. Er könne da übernachten, müsse aber mit der Couch im Wohnzimmer vorlieb nehmen. Denn ihr Gästezimmer war belegt, weil Berenice Winkelmann nach dem dramatischen Fall vor einem guten halben Jahr* immer noch bei ihr wohnte.
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