Die Erinnerung an Opas Tod verband sich mit Trauer über den zumindest teilweisen Verlust des Vaters. Seit Oktober letzten Jahres hatte er ihn nur dreimal gesehen. Diese Begegnungen waren zum Teil sehr problematisch, ja unwürdig verlaufen, vor allem an Weihnachten, als es bereits am ersten Feiertag zu einem massiven Streit mit der Mutter kam und der Vater verbittert wieder abgereist war. Und Wolfgang, Mutters Neuer, war zwar ganz nett. Aber ein neuer Vater? Nie und nimmer. Und dass Mutter jetzt schwanger war, beunruhigte ihn zusätzlich. Er konnte sich kaum vorstellen, dieses Kind als neues Geschwister zu akzeptieren, und Julia und Christian, seine jüngeren Geschwister, dachten ganz ähnlich.
Lange blieb er so gedankenverloren sitzen, ehe er ganz plötzlich aufstand und die Uni verließ. Der Trubel in der Hauptstraße vertrieb schnell wieder seine trüben Gedanken. Bernhard schlenderte weiter bis zum Karlsplatz* und ließ natürlich die Fotoklassiker am Kornmarkt, „Madonna* mit Schloss“, und am Karlsplatz, „Sebastian-Münster-Brunnen* mit Schloss“, nicht aus. Auf dem Rückweg verweilte er auf dem Marktplatz, bewunderte dort die Barockfassade des Rathauses und stellte sich das Thema „Leben in der Heidelberger Altstadt“ für eine ausgedehnte Fotoserie. Er warf einen flüchtigen Blick in die Heiliggeistkirche, die ihn nicht sonderlich beeindruckte.
Allmählich bekam er Hunger. Er sah in eine Reihe von Lokalen hinein, ehe er sich schließlich für die Pizzeria ‚Sole d’ oro‘ 5kurz hinter der Heiliggeistkirche entschied. Es gab aber keinen freien Tisch mehr. Er sah sich um und fragte ein junges Paar, ob er sich zu ihnen setzen dürfe. Sie luden ihn ein, Platz zu nehmen, und bald entspann sich zwischen den Dreien ein angeregtes Gespräch.
Es waren beides Studenten: Germanistik und Geschichte im zweiten Semester. Sie kam aus Norddeutschland, aus der Nähe von Bremen, und er aus dem Saarland. Sie erzählten von ihren Erfahrungen mit dem Studium in Heidelberg. Wie fast überall gab es auch hier vor allem für die unteren Semester viele überfüllte Lehrveranstaltungen, und als Studienanfänger fühlten sie sich oft ziemlich allein gelassen. Das würde aber mehr als wettgemacht durch das einmalige Ambiente der Stadt. Schon das Germanistische Seminar sei ein Juwel: Es hatte seinen Sitz am Karlsplatz, direkt unterhalb des Schlosses im Palais Boisserée, einem vor mehr als 300 Jahren erbauten palastartigen Barockbau, in dem einst auch Goethe verkehrt hatte. Hier lernte man nicht nur Geschichte, sondern konnte sie in der mannigfaltigen Architektur hautnah erleben.
Schnell käme man auch mit vielen verschiedenen Menschen in Kontakt, nicht nur mit Kommilitonen, sondern auch mit ganz anderen durch die Vielzahl von Konzerten, Theateraufführungen, Kleinkunst und dergleichen mehr. Oder ganz einfach auf der bis spät in die Nacht quicklebendigen Fußgängerzone in der Hauptstraße, auf der sich viele Straßenmusikanten oder andere Künstler tummelten. Überhaupt spiele sich hier vieles im Freien ab, was an italienische Piazzakultur erinnere. Lange saßen sie zusammen und Bernhard erzählte auch von München. Schließlich tauschten sie ihre Telefonnummern aus und versprachen, in Kontakt zu bleiben. Es war schon fast Mitternacht, als Bernhard sich auf den Rückweg zum Bismarckplatz machte, um noch eine Straßenbahn nach Rohrbach zu bekommen.
Brombach und Martina Lange hatten die schwierige Aufgabe übernommen, die Eltern des Opfers zu verständigen. Travniczek hatte deren Adresse im Terminkalender von Angela Wendlandt gefunden. Er selbst wollte, wenn das schon möglich wäre, Freimuth Wendlandt befragen. Andernfalls gedachte er noch einmal in die Villa Wendlandt zu gehen, um nach weiteren Hinweisen zu suchen.
Lange hatte ihren Wagen vor ihrer Haustür in Ziegelhausen abgestellt, und gemeinsam waren sie dann mit Brombachs Porsche weitergefahren. Es kam kein Gespräch auf, obwohl beide mit ganz ähnlichen Gedanken beschäftigt waren. Sie wussten, was jetzt auf sie zukam. Wieder einmal mussten sie Menschen eine Nachricht überbringen, die deren Welt zusammenbrechen ließ. Diese Menschen hatten nichts verbrochen. Sie wollten nur in Ruhe leben und taten vielleicht auch viel Gutes. Und wieder könnten sie ihnen keinen Trost spenden, sondern müssten sie zusätzlich mit Fragen belasten, die diese Menschen jetzt am allerwenigsten interessierten. Sie würden das wie immer begründen mit der Floskel, sie wollten ja alles tun, um den oder die, die das getan hätten, einer gerechten Strafe zuzuführen. Bei so einem Einsatz wurden sie immer wieder zurückgeworfen auf die existentielle Grundfrage: warum?
Warum ist die Welt so eingerichtet, dass immer wieder solche himmelschreienden Ungerechtigkeiten passieren, dass immer wieder Menschen das Leben eines Mitmenschen auslöschen und dabei noch weitere Leben schwerstens beschädigen? Kann man noch vom Menschen als der Krone der Schöpfung sprechen, wenn man das Bild der verstümmelten Leiche vom Nachmittag im Kopf hat?
Solche und ähnliche Gedanken gingen den beiden durch den Kopf, als sie nach Waldhilsbach zu den Eltern der Ermordeten unterwegs waren. Von Kleingemünd* aus überquerten sie auf der Friedensbrücke den Neckar, passierten westlich die Altstadt von Neckargemünd* und fuhren weiter nach Süden in das Elsenztal* Richtung Bammental*. Nach etwa zwei Kilometern ließen sie die wenigen Häuser des Weilers Kriegsmühle links liegen und bogen kurz danach rechts ab, unter der Bahnstrecke hindurch, und erreichten auf ansteigender Straße bald das kleine, beschauliche Waldhilsbach*. Das Navi führte sie quer durch den Ort, dessen Straßenführungen zeigten, dass er langsam und zufällig gewachsen war, bis sie am nördlichen Ende in der Straße mit dem idyllischen Namen ‚Im Biengarten‘ ankamen. Im letzten Haus, bevor die Straße zum Waldweg wurde, wohnten die alten Ricardis. Sie verharrten noch einige Augenblicke im Wagen, ohne sich anzusehen. Dann sagte Brombach tonlos: „Bringen wir’s hinter uns“, und sie stiegen aus. Vor ihnen stand in einem liebevoll angelegten Garten ein bescheidenes Einfamilienhaus.
Es war kurz vor halb zehn. Martina Lange öffnete die Gartenpforte, und über einen natursteingepflasterten Weg, der von mannigfaltigen bunten Blumen gesäumt war, erreichten sie die Haustür. Sie läuteten, und sofort schlug ein Hund an, nach seinem Bellen zu urteilen, ein ziemlich kleiner. Es dauerte eine gewisse Zeit, bis sich die Tür einen Spalt öffnete und eine alte Frau mit ergrauten, dauergewellten Haaren und einer starken Brille erschien. Zu ihren Füßen versuchte ein wütend bellender weißer Spitz nach draußen zu gelangen, um die frechen Eindringlinge zu vertreiben. Erst der laute und sehr aufgeregt klingende Ruf von Frauchen, „Erasmus, aus!“, brachte ihn dazu, sich zu trollen.
„Guten Abend, Martina Lange, Kripo Heidelberg, mein Kollege Michael Brombach. Wir müssten mit Ihnen sprechen. Dürfen wir hereinkommen?“
„O Gott im Himmel, jetzt kommt die Kriminalpolizei! Ist was mit unserer Tochter?“
„Können wir das drinnen besprechen?“, antwortete die Kommissarin. Sie merkte, dass die Ricardis offenbar schon seit geraumer Zeit in heller Aufregung waren, und warf Brombach einen vielsagenden Blick zu.
„Ja, natürlich“, antwortete Frau Ricardi beflissen, und in die Wohnung hinein rief sie: „Scipio, komm bitte, die Kriminalpolizei ist da!“
Dann führte sie die Polizisten in eine geräumige, ganz in geöltem Kiefernholz gehaltene Wohnküche und forderte sie auf, Platz zu nehmen. Wenige Augenblicke später kam ein kleiner weißhaariger Mann mit Spitzbart und hellen, freundlichen Augen herein, gefolgt von zwei Kindern, einem Mädchen von vielleicht elf Jahren mit selbstbewussten, dunklen Augen und langen schwarzen Haaren, die zu einem Pferdeschwanz gebunden waren, und einem sehr viel jüngeren Blondschopf, der sich schüchtern hinter seiner großen Schwester hielt.
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