Brief an Anne Will
Wieder einmal sitze ich im Arbeitsamt und warte. Warten ist die größte Tugend für einen überzeugten Hartz-IV-Empfänger. Die vom Amt meinen auch, man hätte sonst nichts zu tun. Was wissen die schon von meinem erfüllten Leben? Hier ist man nur eine Nummer. In meinem Fall ist es die Einhundertvierzehn. Gerade leuchtet die Nummer Zwölf auf. Ich wurde um acht Uhr herbestellt, jetzt ist es drei viertel zehn. Kann also noch etwas dauern. Und ein ausgiebiges und freudespendendes Unterhaltungsprogramm sucht man hier auch vergebens. Nicht mal einen Fernseher gibt es, keinen Getränkeausschank, geschweige denn reich garnierte Schnittchen. Ich wär ja schon mit einer Bockwurst zufrieden. Nur Broschüren liegen zur Unterhaltung und Erbauung hier rum: Eingliederung in den Arbeitsmarkt oder Raus aus Hartz IV . Also völlig uninteressantes Zeug, für einen überzeugten Hartz-IV-Empfänger. Und Science-Fiction-Bücher haben mir noch nie gefallen. In diesem Jahr feierte ich mein zehnjähriges Jubiläum, und das muss mir mal erst jemand nachmachen.
Keine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme, der ich nicht erfolgreich getrotzt hätte. In den Jahren habe ich bereits vier Vermittler verschlissen. Hier auf dem Flur gelte ich als der König der Unvermittelbaren , eine Auszeichnung, die ich mir mit Ausdauer und Zähigkeit, in aller Bescheidenheit, völlig zu Recht verdient habe. Ich gebe auch gerne meine Erfahrungen weiter. Immer wieder werde ich um Rat gefragt. Inzwischen gebe ich meine Ratschläge auf einem eigenen Youtube-Kanal weiter. Regelmäßig bekomme ich Dankesschreiben und kleine Aufmerksamkeiten. Am Tag meines zehnjährigen Ehrentages wurde ich von meinen Kollegen mit einem kleinen Sektempfang überrascht und genötigt eine kleine Rede zu halten. Bunte Luftballons säumten den Flur bis zur Tür meiner Sachbearbeiterin. Einziger Wermutstropfen war das Ignorieren meines Jubiläums durch meine Sachbearbeiterin. Dabei muss sie es doch gewusst haben, denn allein das extra für mich einstudierte Lied Wir wollen niemals auseinandergehen konnte sie doch nicht einfach ignorieren. Aber sonst war es ein schöner Tag.
Nun sitze ich also wieder hier rum und warte. Ich sehe mich so um und entdecke viele neue Kollegen. Die kennen mich noch nicht. Inzwischen sitze ich seit zwei Stunden hier und habe bisher nur vier Autogramme geben müssen und wurde erst einmal um ein Selfie gebeten. Na ja, die Neuen sind anfangs meist noch schüchtern und zurückhaltend. Das legt sich aber mit der Zeit. Auf dem Stuhl neben mir liegt der Spiegel. Na, dann lese ich eben etwas. Interview mit dem Arbeitsminister, mein oberster Dienstherr. Wen interessiert es? Also blätter ich gelangweilt weiter. Die neue Arbeitslosenstatistik. Oh, schon wieder einige Kollegen verloren. Die waren wohl nicht hartnäckig genug, haben sich einwickeln lassen. Weicheier eben. Ich blättere weiter und erblicke das Bild von Anne Will. Was für eine Frau! Ich verpasse keine Sendung von ihr. Die wäre genau die Richtige für mich. Intelligent, eloquent, charmant und gutaussehend. Leider interessiert sie sich nicht für mich. Also jetzt nicht speziell für mich, sondern so gar nicht für Männer. Ich überfliege den Artikel und bleibe bei einem Satz hängen. Frau Will möchte jetzt mehr normale Zuschauer als Talkgäste in ihrer Sendung. In ihrer Sendung möchte sie den Mann von der Straße mehr zu Wort kommen lassen. Also genau mich!
Ich beschließe, sofort einen Brief an Frau Will zu schreiben und mich als ultimativen Talkgast aufzudrängen. Na ja und Kohle gibt es ja sicher auch. Ich bin mir sicher, dass ich Deutschland eine Menge zu sagen habe.
Hans-Günter Sorgenbrecher neben Merkel, Schäuble, Söder oder der ewig heulenden Claudia Roth. Ich werde sie alle niederreden. Ich werde deren Worthülsen mit Substanz und Lebenserfahrung mit Weisheiten füllen. Die reden alle viel, aber sagen nichts. Ich bin mir sicher, da werde ich gebraucht. Ausgerechnet jetzt, zur absoluten Unzeit, wird meine Nummer aufgerufen. Schnell öffne ich die Tür meiner Sachbearbeiterin und rufe ihr nur zu, ich hätte einen Job und schon bin ich weg auf dem Weg nach Hause.
Ich muss einen perfekten Brief an Anne Will schreiben, einen Brief, den sie in ihrem Leben nie mehr vergessen soll. Ein Brief als Grundstein für unsere künftige Zusammenarbeit. Arbeit! Ein Wort, das früher nie über meine Lippen gekommen wäre. Ich war wie elektrisiert. Ich lief an meiner Stammkneipe vorbei nach Hause. Ich lief tatsächlich an meiner Stammkneipe vorbei. Vorbei! Das wäre mir früher nicht passiert. Aber jetzt habe ich nur noch den einen Gedanken: „Ich will zu Will!“ Zuhause angekommen, setze ich mich sofort an den kombinierten Küchen-, Ess-, Arbeits- und Bügeltisch, räume die Flaschen der letzten Tage zur Seite und beginne mit zittriger Hand und aufgewühltem Herzen zu schreiben.
Sehr geehrte Frau Anne Will,
hochzuverehrende Kollegin,
werte Mitstreiterin im Geiste,
zukünftige Mitdiskutantin!
Deutschland hat auf mich gewartet. Ich bin ein großer Verehrer ihrer Sendung und Ihnen als Frau. Dass sie jetzt den normalen Bürger mitdiskutieren lassen wollen, ist eine Entscheidung, die ich mehr als begrüße und es wird ihre Sendung sicherlich in ungeahnte Beliebtheitswerte katapultieren. Die Einschaltquoten werden durch die Decke gehen und eine neue Dimension der Sprachkultur und Talkhygiene erreichen. Die Geschichte des Qualitätsfernsehens muss neu geschrieben werden. Die Fernsehanstalten werden sich um ihr Format reißen. Die Politiker werden kniefällig und unterwürfig darum betteln, als Gast eingeladen zu werden. Sie werden die Königin des investigativen Journalismus, die Heldin des kleinen Mannes und der kleinen Frau. Ihre Sendung wird zum Straßenfeger, wenn, ja wenn, sie jetzt keinen Fehler machen. Wägen sie gut ab und aus. Sie brauchen einen normalen Bürger, der ihnen ebenbürtig ist, jemanden, der gerissen ist wie Robin Hood, sprachgewaltig wie Marcel Reich-Ranicki, beliebt wie Günter Jauch, jemand, der die Weisheit eines Konfuzius mit der globalen Weltsicht eines Helmut Schmidt vereint. Übrigens, ich bin auch Raucher. Und damit wären wir auch schon bei mir. Ihre Intelligenz wird es bereits vermutet haben, denn in aller Demut und Bescheidenheit spreche ich von mir. Sie brauchen Hans-Günter Sorgenbrecher, so mein Name. Ich bin der, den Sie suchen, den Sie brauchen, den Sie sich erhoffen. Ich bin der kongeniale Mitstreiter an Ihrer Seite, das Konzentrat aus Duden und Wikipedia, ich bin Plasberg und Meischberger hoch zwei. Kurz, ich bin der Mann, den Sie brauchen. Kein Universiätsstudium hat mich verblendet. Kein Abschluss, der mich behindert. Kein eingetrichtertes Hochschulwissen, das meinen Kopf zugemüllt hat. Mein Wissen kommt von der Straße, mein Wortschatz entspringt der Wirtschaft, in der ich es Abend für Abend, Nacht für Nacht und oft auch bereits zum Frühschoppen, mir hart erarbeitet habe. Ja, ich bin durch diese harte Schule gegangen, ohne Rücksicht auf meine Gesundheit. Hier habe ich von der Pike auf das Diskutieren und Fabulieren erlernt. Wo ich hinspreche, wächst kein Gras mehr.
Ja, liebe Frau Will, in meiner Stammkneipe habe ich gelernt auf andere zuzugehen, mich auch mal ungefragt in einen Disput einzumischen, Streitschlichter und Seelentröster zu sein. Ich scheue mich auch nicht davor, mir einen ausgeben zu lassen, wenn es der hehren Diskussion dient, ohne Ansinnen der Person. Kein Thema, zu dem ich nicht was zu sagen habe. Ich bin stets ergebnis- und zielorientiert. Notfalls diskutiere ich über die Sperrstunde hinaus, bis zum Erbrechen.
Auch getränketechnisch kann mir keiner das Wasser reichen. Ich bin Verfechter harter Diskussionen und harter Getränke. Ich lasse mir meine Standpunkte nicht verwässern. Alkohol löst die Zunge und deshalb muss Ihr Konzept des wassertrinkenden Politikers in Frage gestellt werden.
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