Trend besichtigte den Touristenmagneten gleich nach seiner Ankunft, um sich einen ersten Eindruck von der neuen West-City zu verschaffen. Aber wie er es befürchtet hatte, bestand die Peripherie des Platzes größtenteils aus lieblos hochgezogenen Betonklötzen, und zwischen den konformistischen Hochhäusern leuchtete die Reklame des zu einem Festivalkino hochstilisierten „Zoopalast“.
Desillusioniert hatte Trend den Mantelkragen hochgeschlagen, und als letztes die weite Sandfläche hinter der Gedächtniskirche gemustert. Auf der Brache stand bis 1943 das von der intellektuellen Elite favorisierte Romanische Cafe; ein imposantes Gebäude, das seit Wochen ein Zirkuszelt mehr als notdürftig ersetzte.
Bei der Erinnerung an den obskuren Anblick stellte sich Trend einen Augenblick vor, wie wohl eine Manege voller Löwen oder Tiger mitten am Times Square wirken würde, und schüttelte ärgerlich den Kopf. Das war jetzt wirklich nicht der geeignete Moment für müßige Reminiszenzen, an diesem Vormittag benötigte er seine Konzentration einzig und allein für das konspirative Meeting mit Susans V-Mann.
Der Spitzel hatte, wie es nicht anders zu erwarten war, auf einem öffentlichen Treffpunkt bestanden, und das Aschinger am Zoo vorgeschlagen. Die Bierstube gehörte zu einer seit der Jahrhundertwende beliebten Kette von Restaurationen, und lag laut Susan nur wenige Meter von der Kantstraße entfernt.
Im Näherkommen entpuppte sich die Aschinger-Quelle als ein ebenerdiger Nachkriegs-Bau, dessen trostloser Anblick noch die allgegenwärtige Tristesse verstärkte. Doch Trend, dem die Melancholie einer gesichtslosen, aus Trümern neu errichteten Stadt nicht fremd war, ignorierte sie geflissentlich, und betrat ohne zu zögern die Gaststätte.
Zielstrebig durchquerte er den Vorraum mit seinen Stehplätzen, und erstand an der Theke einen Pott Kaffee. Den heißen Becher mit beiden Händen umfassend, schlenderte er weiter und blickte sich, scheinbar einen Sitzplatz suchend, neugierig um. Der an den Eingangsbereich angrenzende Saal mit seinen kleinen Tischen und metallenen Säulen war nur halbwegs besetzt, und deshalb bemerkte Trend schon von weiten das mit dem V-Mann ausgemachte Kennzeichen.
Die zwei Zeitungen lagen sorgfältig drapiert auf einem an der Fensterfront platzierten Tisch und beim herantreten entpuppten sie sich wie vereinbart, als eine aktuelle BILD-Zeitung, sowie ein abgegriffenes LIFE-Magazin. Das amerikanische Journal musste mindestens ein halbes Jahr alt sein, denn Trend erinnerte sich daran, das Titelbild mit dem Marilyn Monroe Porträt bereits im letzten August gesehen zu haben. Neben den Presseerzeugnissen stand ein Brötchenkorb mit den begehrten Aschinger Gratis-Schrippen, und ein Terrine Erbsensuppe, die ein unscheinbarer Mann pedantisch auslöffelte.
Trend setzte sich mit einem angedeuteten Kopfnicken auf den zweiten Stuhl und nippte einen Moment schweigend an seinem Kaffee. Dann zog er eine Packung Camel aus der Manteltasche und fragte mit einem bewusst leichten Akzent in der Stimme: „Entschuldigen Sie, mein Herr, würde es Sie sehr stören, wenn ich mir eine Zigarette anstecke?“
Der derart Angesprochene blickte langsam von seinem Teller auf, tupfte sich die Lippen mit der bereitliegenden Papierserviette ab, und bequemte sich zu der Gegenfrage. „Sie sind Amerikaner? Ja? Dann können Sie natürlich nicht wissen, dass es in meinem Land immer noch als unhöflich gilt, wenn jemand während des Essens raucht. Aber abgesehen davon…“ Der füllige Mann musterte Trend mit einem lauernden Gesichtsausdruck, „vertrage ich einfach nicht den Gestank Eurer Glimmstängel, und besonders nicht den der Camel.“
„Das liegt sicher an der typischen American Blend Mischung, aber daran gewöhnen Sie sich noch, glauben Sie mir, wenn die Marke endlich auch in Ihrem Land verkauft wird.“
„Tja, wenn Sie es sagen!“ Mit der Feststellung schien für den Fremden das ihm aufgezwungene Gespräch beendet zu sein. Ohne sein Gegenüber weiter zu beachten, widmete er sich erneut dem Erbseneintopf, und für einen Moment herrschte Stille am Tisch. Dann, nach einer kleinen Anstandspause, steckte Trend seine Zigaretten wieder ein, und deutete amüsiert auf das neben dem Brötchenkorb liegende Etui. „Und, wenn Sie mir noch die Frage gestatten, welche Sorte bevorzugen Sie denn so, mein Herr?“
„Die gute, ehrliche HB.“
„Na, dann gehen Sie mal nicht gleich in die Luft!“ Durch die Verwendung des bekannten Reklamespruches hatte Trend alle aktuellen Codewörter heruntergespult und überließ nun dem Spitzel die Initiative. Der schien aber die Rolle des schweigsamen Geheimnisvollen auskosten zu wollen, und so widmete sich Trend geduldig den jenseits des Fensters vorbeihastenden Passanten.
Das nicht abreißende Gewimmel bestand größtenteils aus Herren mit schwarzen Hornbrillen und unübersehbaren Wohlstandsbäuchen. Dunkle Filzhütte mit schmaler Krempe krönten die einem deutschen Komiker frappierend ähnlichsehenden Gestalten, und zwischen ihnen flanierte das deutsche Fräuleinwunder. Die langbeinigen Blondinen mit den hochtoupierten Brigitte Bardot Frisuren überprüften routiniert ihr Spiegelbild in der Glasscheibe, während hinter ihren schlanken Figuren das Heer der unvermeidlichen Blechkäfer die Joachimstaler Straße verstopfte.
VW, BMW, Mercedes, großzügige Geschenke des deutschen Wirtschaftswunders an die Welt; amüsiert löste Trend den Blick von der rastlosen Karawane und studierte die unmittelbare Umgebung. Trotz des Vormittags füllte die Bierstube schon eine ansehnliche Gästeschar, die bereits einen beängstigenden Geräuschpegel erreicht hatte. Das ständige Gebrabbel übertönte selbst die Gespräche der unmittelbaren Nachbartische, doch erfreulicherweise schien sich niemand daran zu stören.
„Hier kümmert sich jeder nur um seinen eigenen Kram!“ Der V-Mann legte endlich den Löffel zur Seite und beugte sich etwas vor. „Spaß beiseite, lassen sie mich gleich eines klarstellen, ich kommuniziere nur mit Ihnen persönlich; wenn Sie Ihre smarten Freunde mit ins Boot bringen, ist das Geschäft geplatzt! Also, keine Agenturen, welchen Couleurs auch immer, only you and I, advanced information’s just for cash!”
„So ist es gedacht.“ Trend zündete sich nun doch eine Camel an und blies den Rauch höflicherweise in die andere Richtung. „Das liebe ich so an euch Deutschen. Ihr kommt immer direkt auf den Punkt, ohne jedes Vorgeplänkel! Klar und deutlich, einfach preußisch.“
„Nicht doch, Preußen habt ihr uns gründlich ausgetrieben, jetzt regiert hier wie überall auf der Welt der Yankee-Doodle. Da muss man sich halt anpassen.“
„Darin ward Ihr schon immer sehr fix.“ Trend ersparte sich jeden weiteren Kommentar der ihm noch auf der Zunge lag, und erklärte in einem bewusst geschäftsmäßigen Ton: „Also, zurück zum Procedere. Die Berichte sind allein mir zugänglich, es wird weder offizielle Akten noch Quellenangaben geben, keine Memos oder Einbeziehung Dritter, only need to know Basis!“
„Allright, Business as usual! OK, jetzt müssen Sie mich nur noch davon überzeugen, dass sich der Deal auch lohnt.“ Der Mann rieb in einer bezeichnenden Geste Daumen und Zeigefinger aneinander. „Bedenken Sie mein erhebliches Risiko…“
Die arrogante Geste entlockte Trend ein schmales Lächeln, und er sah für einen Moment vor sich, wie der schäbige Kerl heimlich Akten und Karteikarten kopierte. Wahrscheinlich arbeitete er im Polizeipräsidium oder in der Senatsverwaltung; auf alle Fälle saß er direkt an der Quelle und seine Beute verkaufte er an den Meistbietenden. Der Typ war nichts anderes als ein mieser Verräter, ein schmutziges, aber notwendiges Werkzeug, das er ohne Reue jederzeit fallen lassen würde.
Trend drückte die Zigarette aus, und zog aus dem neben der Menage stehenden Plastikständer einen Bierdeckel. Auf den Rand schrieb er mit seinem Lamy eine Zahl und schob das Angebot über den Tisch. Die offerierte Summe schien dem V-Mann durchaus angemessen zu erscheinen, denn er nickte unmerklich, und stellte lakonisch fest: „In Ordnung! Das ist zumindest eine Verhandlungsbasis.“
Читать дальше