Darüber hinaus spielte auch der alte Volksempfänger nicht sein gewohntes Abendprogramm, denn der Wirt hatte ihn schon vor Wochen abgestellt, um die Röhren zu schonen.
„Wer säuft, kann selber singen“, lautete Herberts Devise, die auch lautstark seine bessere Hälfte vertrat. Elkes tizianrot gefärbte Lockenpracht leuchtete provokativ hinter dem Tresen, wo sie mit ihren falschen Wimpern die Stammkunden zu bezirzen versuchte. Vor allem die senilen Greise fielen immer wieder auf das Augengeklimper herein, das aber beim roten Horst wie an einer Betonmauer abprallte. Unbeeindruckt von Elkes primitiven Verführungskünsten trank er sein kleines Bier und wirkte dabei so humorlos, dass ihn keiner der anderen Gäste auch nur anzusprechen wagte.
Den Blick starr auf den Overstolz-Aufsteller im Flaschenregal gerichtet, galt Horst Szymaneks Aufmerksamkeit seltsamerweise nur der angeblich am meisten gerauchten deutschen Zigarette. „Tropen-Packung, Zwölf Stück, fünfzig Pfennige“, verkündete die blaue Werbefläche, und die Botschaft besaß eine solche Faszination, dass Horst anscheinend nicht einmal bemerkte, dass Kalle einen Barhocker heranrückte. Sich auf ihm niederlassend, bestellte der Hüne als guter Neuköllner ein kleines Schultheiss vom Fass, das Elke mit dem üblichen Brimborium zapfte, den Schaum abstrich, und es auf den Bierdeckel stellte. Kalle genehmigte sich einen tiefen, die Sorgen leider nicht vertreibenden Schluck, und murmelte dann: „Scheiße, Hotte! Und wenn Du mich totschlagen lässt, aber Dein Geld siehst Du so schnell nicht wieder!“
„Ich hab nichts anderes erwartet!“ Horst verzog seine Lippen zu jenem grausamen Lächeln, dessen sich schon Kalles Lehrer in der Grundschule befleißigt hatten. „Die Woche malochen auf dem Bau hat Dir wohl nicht viel eingebracht?“
Ehe Kalle noch auf die offensichtliche Provokation angemessen reagieren konnte, legte ihm Horst die Hand auf den Arm und fügte weitaus versöhnlicher hinzu: „Lass mal, Sputnik! Ist doch keine Schande sich als Hucker für ein Butterbrot abzurackern! Hast ja überhaupt verdammtes Glück gehabt, dass der alte Schultze noch einen Innenausbau fertigstellen musste.“
Um seine Worte zu bekräftigen, hob Horst das Glas und prostete Kalle zu. „Auf die Plackerei und das Baugewerbe! Runter mit der Plörre und dann rück Deine Lohntüte rüber, ich bin heute auch mit einer Anzahlung zufrieden.“
Karl Urban hörte die Worte wohl, aber da er sich wie so oft in seinem bescheidenen Leben schlichtweg überfordert fühlte, zückte er ergeben seine Brieftasche und zog die wenigen, sauer verdienten Scheine heraus. Doch als er sie auf den Tisch blättern wollte, winkte Horst großspurig ab. „Ist schon gut, Sputnik! Lass die Moneten erst mal stecken! Und trink endlich aus, ich lad Dich ein.“
Szymanek knallte zwei genau abgezählte Münzen auf den Tresen, Wirtsleuten gab er prinzipiell kein Trinkgeld, und befahl in seinem angeblich nur rein sachlich gemeinten, aber stets beleidigend klingenden Tonfall: „Fertig? Gut, dann schließ den Mantel und komm mit vor die Tür, wir müssen Tacheles reden.“
„Du willst mich nur wieder belatschern!“
„Wo werd ich, Sputnik! Bist doch ein cleverer Bursche, Dir kann ich doch nichts vormachen.“ Sich ein impertinentes Grinsen verkneifend, schloss Horst die Caban-Jacke und trat hinaus in die klirrend kalte Nacht. Die Hände in die Taschen gestopft, lauschte er einen Augenblick dem gedämpften Aufheulen ferner Jetdüsen, und fühlte sofort wieder die Ohnmacht seiner vergeudeten Jugend. Wie in jenen schrecklichen Stunden vermeinte er die Motoren der angloamerikanischen Bomber zu hören, das Näherkommen der Einschläge, und die den Luftschutzkeller erschütternden Vibrationen.
Horst Szymanek schüttelte sich trotzig, und das Echo seiner unbewältigten Vergangenheit verwandelte sich übergangslos in simplen Fluglärm, ruhestörenden Krach, der ja für den Volltrottel an seiner Seite angeblich eine ganz andere Bedeutung besaß.
Weltraumraketen und amerikanische Schundhefte! Ohne Karl Urban anzublicken, unterhielt sich Szymanek scheinbar mit den dunklen Fassaden auf der anderen Straßenseite: „Was für eine Nacht, Sputnik! Eisig wie am Nordpol, genau das richtige Wetter für wahre Helden. Für Abenteurer wie Dich, da irre ich mich doch nicht, oder?“
Kalle antwortete nicht, und so stichelte der gewiefte Demagoge weiter: „Echte Heros sind es gewohnt etwas zu riskieren, alles auf die entscheidende Karte zu setzen. Alles oder nichts, noch einmal Ente oder Trente, wenn Du verstehst was ich meine?“
Karl Urban wollte, oder konnte aber nicht den Sinn der verborgenen Botschaft enträtseln, und so kam Szymanek notgedrungen auf den Kern der Dinge zu sprechen. Mit wenigen, simplen Worten schlug er vor, erneut um die ausstehende Summe zu zocken. Wieder doppelt oder in den Arsch gekniffen, sozusagen fifty-fifty, das war doch eine verdammt reelle Chance. „Ehrlich Kalle, vielleicht küsst Dich ja heute Nacht die Glücksfee und Du zeigst es mir so richtig!“
„Quatsch! Damit ich die sauer verdiente Kohle erneut verliere? Sag mal, für wie dämlich hältst Du mich eigentlich?“
Szymanek breitete nur in einer vielsagenden Geste die Arme aus und stellte dann erneut fest, dass eine Gewinnchance von fünfzig zu fünfzig doch ein absolut faires Angebot wäre. „Überlege es Dir einfach Kalle, Du bist doch ein ausgeschlafener Typ, der genau weiß, wie viel er riskieren kann.“
Das vermeintliche Lob trug der rote Horst aber derart herablassend vor, dass Kalles leichtsinniges Spielerherz der plumpen Herausforderung einfach nicht zu widerstehen vermochte. Ohne auf die mahnende Stimme in seinem pochenden Hinterkopf zu hören, grinste er bejahend und wollte sich wieder der Kneipe zuwenden, als ihn Szymanek stoppte. „Hey, nun mal langsam mit den jungen Pferden!“
Eine schwielige Hand hielt Kalle am Ärmel fest, während der Verführer verständnisvoll vorschlug: „Nicht da drin, Sputnik. Das können wir doch weitaus gemütlicher, und vor allem billiger haben. In meiner Bude steht noch ein voller Kasten Schultheiss.“
Gegen ein solches Argument ließ sich nun wirklich nichts mehr einwenden, und da Szymanek ja angeblich in der Nähe wohnte, stimmte Kalle ergeben zu. Mit finsterer Miene folgte er dem kleinen Mann zur Hermannstraße, die ihm an der Ecke Kienitzer schon viel Freude bereitet hatte. Direkt vor ihm lag nämlich das Union-Kintopp, in dem er regelmäßig aus dem tristen Alltag flüchtete, und gleich schräg gegenüber ein Spielzeugladen. Dass der flache Nachkriegsbau größtenteils Utensilien für werdende Mütter verkaufte, übersah Kalle allerdings immer großzügig, denn ihn faszinierten nur die im Vordergrund des Schaufensters platzierten Ritter und Indianer.
Ja, die kleinen Karl May Elastolin-Figuren hatten es ihm als eifrigem Leser der grünen Bücher besonders angetan, und zu seinen besonderen Lieblingen zählte vor allem Old Shatterhand. Die alte Schmetterfaust bereinigte ihre Probleme stets mit einem Hieb gegen die Schläfe, und genau so hätte er gerne auch den roten Horst bestraft, aber diese Art von Gerechtigkeit kam ja im Augenblick leider nicht in Frage.
Also löste Kalle widerwillig den Blick von dem jetzt unbeleuchteten Geschäft und stapfte seinem Rendezvous mit dem Schicksal entgegen. Horst wohnte nur zwei Seitenstraßen entfernt im vierten Stock eines alten Mietshauses, und bereits im Korridor erwarteten Kalle drei ihm völlig unbekannte Männer. Die Kerle besaßen genau jenen verkniffenen Gesichtsausdruck, den er schon bei Horsts anderen Kumpels gesehen hatte, und der anscheinend allen roten Genossen zu Eigen war.
„Habe ich es doch gewusst! War doch klar, dass Du Dir Verstärkung besorgst, allein auf dich gestellt hast Du einfach zu viel Schiss.“
„Na, zu zweit können wir ja wohl schlecht spielen. Oder?“ Szymanek grinste süffisant und öffnete die Tür des auf der linken Seite gelegenen Zimmers. „Du kannst dich gleich nützlich machen und mir beim Tragen helfen. Bist ja schließlich der Fachmann für volle Bierflaschen.“
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