Reginald Rosenfeldt - Requiem für West-Berlin

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Berlin 1963. In der geteilten Stadt erwarten die Menschen aus ganz unterschiedlichen Gründen den Besuch des amerikanischen Präsidenten. Unter ihnen befinden sich sowohl Captain John Trend, den das United States European Command von Frankfurt nach Berlin versetzt hat, als auch Karl Urban, genannt Sputnik, ein notorischer Kleinkrimineller, Horst Szymanek, ein streitbarer Kommunist und «Miss Unfehlbar» Susan Fisher, die gute Seele von Major de Lisles Spezialgroup.
Während J.F.K. in Berlin-Tegel landet, startet der geheimnisvolle Mischa eine perfide Operation und Kriminalassistent Hans-Jürgen Kowalski jagt einen zweifachen Mörder.

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Reginald Rosenfeldt

Requiem für West-Berlin

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Inhaltsverzeichnis Titel Reginald Rosenfeldt Requiem für WestBerlin Dieses - фото 1

Inhaltsverzeichnis

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Impressum neobooks

1.

In der Mitte des 18. Jahrhunderts bescherte der Preußenkönig Friedrich II. dem Dörfchen Kienitz durch die Trockenlegung des sumpfigen Oderbruchs einen bescheidenen Wohlstand. Vielleicht gehörte die Erinnerung an den erfreulichen Aufschwung mit zu den Gründen, warum der Berliner Magistrat 200 Jahre später im Zuge der allgemeinen Neuordnung die Neuköllner Steinmetzstraße in Kienitzer Straße umbenannte.

Von einer der Hauptverkehrsadern des Bezirks ausgehend, führte die Kienitzer Straße steil aufwärts zum Flughafen Tempelhof. Verwitterte, vom letzten Weltkrieg geschwärzte Fassaden säumten ihre zersprungenen Bürgersteige, und ein eiskalter Ostwind hatte die Anwohner in ihre überheizten Wohnungen vertrieben. Auf den Dächern der teilweise noch aus dem vorigen Jahrhundert stammenden Gebäude blinkten rote Signallichter, die bereits den Rosinenbombern den Weg gewiesen hatten, und über dem Häusermeer hing der graue Berliner Himmel wie eine bleierne Decke. Seine melancholische Ausstrahlung verwandelte die ohnehin schon öde Straße in eine verlassene Schlucht, durch die allen Unbill zum Trotz, ein Mann stapfte.

Frischer Schnee fiel auf seine ungepflegten blonden Haare und rieselte in den Ausschnitt des bis zur Brust geöffneten Hemdes. Einige der Flocken blieben auf Karl Urbans nackter Haut kleben, doch er spürte sie genauso wenig wie die grausame Kälte, die unerbittlich in seinen Körper biss.

Nein, weder der Berliner Winter, noch die Tristesse des Januars peinigten Urban, denn ihn wärmte das trügerische Feuer eines billigen Schnapses. Neun Gläser Korn hielten seinen verschlissenen Motor am Laufen, und befeuerten zudem jenen unbeherrschten Zorn, der ihm ständig suggerierte, dass die gesamte Stadt ihn gnadenlos hasste. Für seine beschissenen Mitbürger war er der größte Versager von allen, der ewige Pechvogel, die Niete der Nation.

Fast lustvoll suhlte sich Urban in einem Minderwertigkeitsgefühl, für das auf Grund seiner beeindruckenden physischen Erscheinung überhaupt kein Anlass bestand. Auf den unbefangenen Beobachter wirkte er nämlich wie ein gutmütiger Bär, den selbst der immer heftiger werdende Sturm nicht umwehen konnte. Aber der fast zwei Meter große Koloss, war schon lange ein Schatten seiner selbst, eine lächerliche Schießbudenfigur, die nun ihren torkelnden Schritt verlangsamte, um sich fahrig mit der blaugefrorenen Hand über das Kinn zu streichen.

Die Geste erfolgte rein mechanisch, denn anstatt die Eiskristalle zwischen den Bartstoppeln zu fühlen, drehten sich Urbans Gedanken einzig und allein um Bruno Hartmann. Der elende Kerl trug die Hauptschuld an dem ganzen Schlamassel, und deshalb verdiente er auch eine tüchtige Abreibung.

Bei dem Gedanken an die knochenbrechende Wucht seiner Hiebe begann Urbans malträtiertes Herz schneller zu schlagen, und er lächelte böse. Ach ja, wenn er es dem Herrn Verkehrsmeister erst einmal so richtig besorgt hatte, würde ihn nicht einmal die eigene Mutter mehr wiedererkennen.

„Die Sau bettelt doch regelrecht um eine Tracht Prügel“, rechtfertigte Urban trotzig seine gewalttätigen Fantasien, und kämpfte sich weiter dem Ende der Straße entgegen, während sein umnebelter Kopf gnadenlos die leidige, alte Schallplatte abspielte. Ohne Pause dudelte er die verlogene Moritat von dem großen Missverständnis, dem ungerechten Pech, dem er letztendlich seine Kündigung verdankte.

Urban schloss sekundenlang die Augen und quälte sich zum hundertsten Mal mit der Frage, warum die miesen Klugscheißer der Berliner Verkehrsgesellschaft ausgerechnet ihn herausgepickt hatten. Er war weiß Gott nicht der einzige, der trotz Abmahnung angetrunken zum Dienst erschienen war, oder das Wechselgeld nicht ganz korrekt abgerechnet hatte. Das waren lächerliche Lappalien, Kindereien, wegen denen man ihn doch nicht einfach an die frische Luft setzen durfte!

„Schweine, verdammte dreckige Schweine!“ Urbans niedrige Hemmschwelle verhinderte wie so oft, dass er die traurige Wahrheit wenigstens einen Augenblick lang akzeptierte. Jene Realität, in der er als Autobusschaffner fast ein Viertel des eingenommenen Fahrgeldes in die eigene Tasche gestopft hatte. Am Anfang stahl er nur einzelne Fünf- und Zehnpfennigmünzen, aber dann summierte sich der Betrag, und als er ein strenges Verhör durchleiden musste, rechtfertigte er sich damit, dass er leider mehrere Fahrscheinblöcke verloren hatte.

„Was wollt Ihr denn von mir? Verbummelt Ihr Schlipsträger denn nie etwas? Na also, ist doch klar wie Kloßbrühe, ohne Billets kann ich nun mal kein Geld einnehmen!“ So schlicht und ergreifend hatte Hartmann das aber nicht gesehen, und so trottete Urban nun arbeitslos die Kienitzer Straße entlang.

„Scheiße, Scheiße, Scheiße!“ Unbeherrscht fluchend knöpfte der gedemütigte Mann die dünne Wolljacke noch weiter auf, und atmete tief durch. Luft, er brauchte dringend frischen Sauerstoff, eine kräftige Brise, die solange sein Gehirn durchpustete, bis er endlich wieder den Zauber seiner längst verloren geglaubten Träume spüren konnte. In ihnen war er, genau wie die Helden seiner Kindheit, stets der Herr seines eigenen Schicksals gewesen; ein kosmischer Abenteurer, den die BVG-Knechte den Arsch kreuzweise lecken durften! Verächtlich spuckte Urban auf den verkrusteten Schnee und brüllte: „Hey, ihr lahmen Stubenhocker! Wagt euch doch heraus zu mir, hier draußen tobt das echte, harte Leben!“

Die vom eisigen Wind verschluckten Worte beinhaltete durchaus eine gewisse Wahrheit, denn der zornige Riese marschierte geradewegs seinem persönlichen Shangri-La entgegen. Der magische Ort befand sich am Ende der Kienitzer, und Urban musste nur noch über eine spiegelglatte Fahrbahn schlittern, bevor er endlich am Zaun des Flughafens Tempelhof stand. Das jenseits des rautenförmigen Maschendrahts beginnende Areal versteckte sich, wie in den letzten Tagen, hinter einer Mauer wirbelnden Schnees, und der geisterhafte Anblick entführte Urbans kindliches Gemüt übergangslos aus der profanen Wirklichkeit.

Gebannt starrte er in die weiße Unendlichkeit, die ihn so sehr an die Abenteuer in seinen geliebten Comics erinnerte. Die schmalen Streifenhefte halfen ihm den elenden Alltag zu überleben, und letztendlich verdankte er ihnen sogar seinen Spitznamen. Sputnik, nannten ihn seine wenigen Freunde, Kalle Sputnik, oder auch Kalle der Weltraumfahrer, da sich die Anrede auf ein Cover seiner Lieblingsserie bezog.

„Nick der Weltraumfahrer“! Ha, die fantasielosen Kerle wollten einfach nicht verstehen, warum ein erwachsener Mann überhaupt Bilderheftchen schmökerte. Für sie war er einfach ein impulsiver, wenn auch gutmütiger Spinner, der schon viel zu lange in einer entrückten Traumwelt lebte. „Wenn das wirklich ihre Meinung war, bitte sehr!“

Trotzig umklammerte Urban den Zaun und kehrte für einen Moment wieder in jene fantastische Region zurück, die den muffigen Berliner Alltag überhaupt erst erträglich machte. Nur in den imaginären, Lichtjahre weit entfernten Weiten des Alls fühlte sich seine Seele wirklich frei, und er hätte sonst etwas dafür gegeben, sie genau wie „Captain Zukunft“ mutig durchstreifen zu dürfen.

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