„Verfluchte Idioten!“ wiederholte er wütend, und wandte sich an den anderen Störenfried. „Was ist nun, Sputnik? Hast Du Dich wieder eingekriegt?“ Karl Urban nickte nur, und Naumann fuhr fort: „Dann zisch ab, und sieh zu, dass Du spätestens Morgen Deine offenen Bierdeckel begleichst, sonst kannst Du Dir eine andere Kneipe suchen. Mir reicht es nämlich.“
„In drei Tagen, dann bin ich wieder flüssig.“ Kalle schüttelte die ihn nur noch locker festhaltenden Fäuste ab und verließ ohne ein weiteres Wort den „Schwarzen Kater“. Mühsam seine ungeheure Wut unterdrückend, torkelt er über die Fahrbahn zu der gegenüberliegenden Häuserfront, und schloss die schwere Holztür mit der Nummer 101 auf. Seine Bude lag zum zweiten Hof hinaus, und als er endlich in sie hineinwankte, erfüllte ein gleichmäßiges Rauschen seinen Kopf. Nicht mehr Herr seiner selbst, ließ er sich angekleidet auf das ungemachte Bett fallen, und driftete schon nach wenigen Minuten in einen tiefen, traumlosen Schlaf.
John Trend betrat mit der ihm eigenen Unauffälligkeit das für ihn provisorisch eingerichtete Büro. Die Kammer diente bisher als Abstellraum, in dem man vor allem Aktenordner, Stapel von Schreibmaschinenpapier und ausrangierte technische Utensilien gelagert hatte. Einige der defekten Tischlampen und IBM-72 typewriter verstaubten immer noch in einem Regal, während der fast die halbe Rückwand einnehmende Xerox-Kopierer vor zwei Tagen endlich in den Keller entschwunden war.
Als Ausgleich zu dem tristen Ambiente wartete auf dem Schreibtisch ein Tulpenstrauß, dessen liebevolles Arrangement nur von Susan stammen konnte. Trend ging nicht davon aus, dass ihn Archer mit den Boten des noch fernen Frühlings erfreuen wollte, und abgesehen davon, war es Susan gewesen, die erst gestern die drei zaghaften Schneeglöckchen vor der Villa entdeckt hatte.
Lächelnd stellte Trend die Blumenvase auf das Fensterbrett, um einen etwaigen Wasserschaden auf dem Aktenordner zu verhindern, und ließ seine Gedanken zu der aparten Kollegin schweifen. Die zierliche Deutsche hatte sich seit seiner Ankunft als eine unentbehrliche Hilfe erwiesen, der er verständlicherweise auch menschlich näher gekommen war. Natürlich nicht zu privat, oder gar intim, denn Susan schaffte es mühelos jederzeit die nötige, feine Distanz zu wahren.
Nein, ihr gegenseitiges Verhältnis entsprach mehr dem von vertrauten, langjährigen Kollegen, und das ging so weit, dass Susan die Pausen zwischen den einzelnen, oft ermüdenden Sitzungen nutzte, um ihr Leben wie einen bunten Flickenteppich aufzurollen. Ohne sich zu zieren, zog sie spöttisch Bilanz, und füllte damit unwissentlich die letzten Lücken in ihrer Personalakte.
Laut den Unterlagen, heiratete die in Hannover geborene Susanne Paulus 1952 den US-Offizier Derek Fisher und erlangte dadurch die damals heißbegehrte amerikanische Staatsbürgerschaft. Wirtschaftlich nun besser gestellt, profitierte sie davon, dass ihr Mann bei den Streitkräften diente, denn durch seine Vermittlung erhielt sie eine Anstellung in der Wiesbaden Air Base. Hier, nur 30 Kilometer vom Frankfurter Flughafen entfernt, erklomm sie schnell die Karriereleiter durch ihre vielgeschätzten, angeblich so typisch deutschen Tugenden wie Fleiß, Präzision, und Pünktlichkeit. Zu diesen Pluspunkten gesellten sich noch die freundschaftlichen Kontakte zu ihrem ehemaligen Arbeitgeber, dem hessischen Landeskriminalamt in Wiesbaden, und so konnte es nicht ausbleiben, dass sie fast zwangsläufig in eine Spezialeinheit übernommen wurde.
Das neue Betätigungsfeld erschien ihr am Anfang wie ein modernes Märchen, eingewoben in ein Netz von Geheimnissen und aufregenden, kleinen Missionen, sah sie sich schon als die Mata Hari der jungen Bundesrepublik. Eine Einschätzung, die schnell von der banalen Wirklichkeit revidiert wurde, und zudem ihre Ehe belastete. Krise folgte auf Krise, und als sich dann die Gerüchte über Dereks nicht einmal volljährige Geliebte als wahr erwiesen, reichte sie nach elf verschwendeten Jahren die Scheidung ein.
Mit der Trennung erlosch Susannes amerikanischer Traum, von dem letztendlich nur der Spitzname Susan übrigblieb, und die das Privatleben ersetzende Arbeit bei der Armee. Eingenistet in ihrem Schutz bietendem Büro, verdiente sie sich als die notorische „Miss Unfehlbar“ den zweifelhaften Ruf der emsigen Deutschen, und Routine ersetze ihre schon vor langer Zeit erloschene Beziehung. Susan selbst kommentierte die triste „Story of her life“ mit dem Bonmot. „Es lohnt sich nicht, über vergossenes Bier zu weinen.“
Die im nüchternen Tonfall vorgetragene Selbsteinschätzung bestätigte nur Trends in den letzten Wochen gewonnenen Erfahrungen. Susan entpuppte sich nämlich als eine realistisch veranlagte junge Frau, die es trotz ihrer manchmal schon nervenden Pingeligkeit durchaus verstand eine angenehme, ja, fast private Atmosphäre zu verbreiten. Ihre Gegenwart wirkte derart entspannend, dass selbst Trend nicht umhin kam, einige Bonmots aus der eigenen Vergangenheit zum Besten zu geben.
So lüftete er erst letzte Woche das Geheimnis seiner fast akzentfreien deutschen Aussprache, die er der Großmutter verdanke. Die aus Hamburg stammende Dame hatte stets darauf bestanden, dass er bei seinen Besuchen in der Mundart der alten Heimat mit ihr plauderte, und nun kamen ihm diese Nachmittage bei seinen Aufenthalten in „good old Germany“ mehr als zupass.
Zur Not konnte er überall als „Einheimischer“ durchgehen, der eben nur im Akzent eines anderen Bundeslandes redete. Für die Berliner hörte er sich dann wie ein Norddeutscher an, und in Hamburg benutzte er wiederum den vertrauten Kreuzberger oder Neuköllner Dialekt.
Apropos Berliner Bezirke, die Bewohner der geteilten Metropole würden bestimmt nicht schlecht staunen, wenn im Sommer die Operation „Good neighborhood“ anlief, aber bis dahin galt es jede noch verbleibende Minute sinnvoll zu nutzen. Der Feind jenseits der Mauer schlief schließlich nicht, und so gönnte Trend den aufblühenden Tulpen einen letzten Blick und ergriff den Aktenordner. Zwischen den grauen Deckeln steckten die Dossiers der in West-Berlin etablierten kommunistischen Brigaden, und als Quelle für die rechtlich nicht relevanten Informationen dienten hauptsächlich verschiedene V-Männer, die sowohl für den BND, wie auch den Militärischen Abschirmdienst oder das LKA arbeiteten. Ihre Identitäten verschleierten Codenamen, für die Trend keine Freigabe besaß, und die er letztendlich auch nicht benötigte. Denn ihn interessierten nicht die ohnehin observierten Genossen, sondern die weitaus gefährlicheren, militanten Splittergruppen und Einzelgänger.
„Damned red idiots“, pflegte Captain Archer die Fanatiker so treffend zu bezeichnen. Unbelehrbare, die sich nicht im Focus der offiziellen Behörden befanden, und für deren Kontaktierung Trend auf die Mitarbeit eines Free-Lancers angewiesen war. Eines ordinären Spitzels, wie sie sich laut Susan vor allem im BKA tummelten, zu dem sie ja laut de Lisle die besten Verbindungen besaß.
Miss Unfehlbar und ihre schwarze Soldliste! Erheitert zündete sich Trend eine Camel an und blickte auf die Uhr. Susan sollte eigentlich jeden Augenblick eintreffen, denn der Major hatte sie vor vier Stunden mit einer heiklen Mission in das Polizeipräsidium in der Friesenstraße geschickt. Der ehemalige preußische Kasernenkomplex lag am Flugplatz Tempelhof und damit nicht gerade um die Ecke, aber allmählich wurde es Zeit, dass Susan zurückkehrte.
Trend rauchte die Camel zu Ende, und als er sie im Aschbecher ausdrückte, hörte er endlich das unverwechselbare Klackern energischer Schritte im Korridor. Einen Moment verharrten sie vor der Bürotür, dann drückte eine Hand die Klinke hinunter, und Susan betrat den Raum. Adrett, beherrscht, ganz dem kühlen Image von Grace Kelly entsprechend; eine moderne Frau, die trotz des sicher anstrengenden Vormittags unglaublich kompetent wirkte. Mit einem kleinen, neutralen Lächeln nahm sie unaufgefordert Platz, und Trend bot ihr kameradschaftlich eine Zigarette an. „Schön, dass Sie es noch rechtzeitig geschafft haben. Ich hoffe, Sie sind gut durch den Stau am Innsbrucker Platz gekommen?“
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