„Er sagt, du passt im Unterricht nicht auf.“
„Ich komme nur nicht mit,“ verteidigt sich Miko sofort. „Ich verstehe nicht, was er da auf die Tafel schreibt.“
„Dann frag ihn doch einfach. Dazu ist er schließlich da.“
„Das mach ich doch.“
„Und?“
Miko lässt die Schultern hängen. „Ich verstehe es trotzdem nicht.“
„Dann frag ihn halt nochmal.“
„Das will ich nicht.“
„Warum, nicht?“
„Weil mich dann die anderen auslachen.“
„Weshalb sollten sie?“
„Weil sie alles, was der Lehrer erklärt, sofort verstehen. Nur ich nicht. Sie sagen, ich bin dumm.“
„Wer sagt das?“
„Alle.“
„Das glaube ich nicht.“ Die Mutter verschränkt die Arme vor der Brust. „Das kann ich einfach nicht glauben,“ sagt sie dann kopfschüttelnd.
„Es ist aber so.“
„Herr Haller meint, du könntest eine gute Schülerin sein. Aber du willst nicht.“
„Das ist nicht wahr,“ begehrt Miko auf.
„Er sagt auch, dass du dich nicht genug anpasst. Das könnte auch der Grund sein, weshalb du keine Freunde findest.“
„Weil ich mich nicht anpasse?“ Miko ist empört und wütend. Sie findet das alles so ungerecht. Niemand versteht sie. „Warum muss ich mich denn überhaupt anpassen?“ will sie wissen. „Weshalb kann ich nicht einfach so sein wie ich bin?“
„Es gibt eben gewisse Regeln, Miko. Das ist nun einmal so.“
„Aber warum denn?“
Die Mutter seufzt. „Miko, nun mach es mir doch nicht so schwer.“ Sie fährt sich müde über die Stirn und macht ihr vertrautes Kopfschmerz-Gesicht. Doch Miko ist nicht bereit das Thema so einfach fallen zu lassen. Nicht heute.
„Warum muss ich eigentlich immer alles tun, was die Erwachsenen von mir verlangen? Warum muss ich mich zwingen Mathe zu lernen oder Deutsch, obwohl ich das eigentlich gar nicht will?“
„Ach! Und was willst du denn statt dessen gerne tun?“ fragt die Mama herausfordernd.
„Ich will auf meinem Skateboard durch die Stadt fahren. Ich will malen und zeichnen, weil mir das Spaß macht. Ich will das tun, was mich glücklich macht. Aber vor allem will ich, dass keiner mir ständig vorschreibt, was ich zu tun oder zu lassen habe.“
„Hör auf damit, Miko. Du weißt, das ist völliger Humbug!“ Ihre Mutter guckt jetzt sehr streng.
Da platzt Miko der Kragen. Sie stampft mit dem Fuß auf und über ihre Wangen laufen bittere Tränen.
„Ich will das nicht mehr.“
„Und weißt du, was ich nicht mehr will?“ brüllt die Mutter auf einmal und ihre Stimme überschlägt sich dabei. „Ich will, dass du endlich mal Ruhe gibst und mir nicht ständig solche Sorgen machst.“
Rumms! Das hat gesessen.
Miko`s Unterlippe zittert. Mit einem lauten Schluchzer dreht sie sich um und rennt die Treppe hoch.
„Miko,“ ruft ihre Mutter reumütig hinterher. „Kleines, komm bitte zurück.“
Doch Miko hört sie nicht mehr. Sie ist blind vor Tränen und schlägt die Tür des Kinderzimmers lautstark hinter sich zu. Dann wirft sie sich auf das Bett und weint bittere Tränen. Sie versteht das alles nicht. Sie versteht so vieles nicht. Aber ist sie deshalb dumm?
Zum wiederholten Mal muss sie sich fragen, weshalb sie sich von den anderen Kindern ihres Alters so unterscheidet.
„Was ist nur los mit mir?“ ruft sie weinend aus. „Stimmt etwas nicht mit mir?“ Sie greift noch immer schluchzend nach ihrem Teddy Domino und drückt ihn fest an ihre Brust. „Es ist so schwer.“
„Und dabei kann es doch so einfach sein,“ meint eine fremde Stimme plötzlich.
Miko zuckt erschrocken zusammen und hebt den Kopf. Sie erblickt einen dunkelhäutigen Jungen mit schokoladenbraunen Augen, der vor ihrem Bett steht. Er trägt ein seltsames Gewand aus gelben Leinen und sieht sie mitfühlend an.
Sie rubbelt sich mehrmals die Augen, weil sie davon überzeugt ist, dass sie träumt. Doch der Junge steht weiterhin vor ihr und lächelt sie jetzt freundlich an. Miko weicht vor ihm zurück, den Teddy drückt sie noch fester an sich.
„W-wer bist du?“ fragt sie mit ängstlicher Stimme.
„Ich bin Taboa.“
Ein Duft steigt Miko in die Nase und sie muss dabei an ein Feld voller Wildblumen denken. Sie fühlt sich mit einemmal seltsam.
Die Angst vor dem fremden Jungen, der wie aus dem Nichts erschienen ist, weicht einer neuen Emotion. Ein liebevolles und sanftes Gefühl breitet sich in ihr aus und sie weiß auf einmal, dass ihre Furcht ganz unbegründet ist. Sie lockert ihren Griff um Domino und betrachtet den Jungen jetzt neugierig.
„Was tust du hier?“ fragt sie.
„Dich besuchen,“ sagt der Junge, ganz so als wären sie alte Freunde. Miko weiß darauf nichts zu sagen und starrt ihn einfach nur sprachlos an. Taboa setzt sich zu ihr an den Rand des Bettes.
„Ich dachte, es ist an der Zeit mich dir vorzustellen.“ Er lächelt breit und entblößt dabei eine Reihe schneeweißer Zähne.
„Woher kommst du?“
„Ich komme direkt aus deinem Herzen.“
Miko fasst sich unwillkürlich an die Brust.
„Ich weiß, du bist dabei deinen Glauben zu verlieren,“ fährt er jetzt fort. „Ich will dir helfen ihn wieder zu finden.“
„Welchen Glauben?“
„Den Glauben an dich selbst.“ Taboa mustert sie eingehend. „In deinem Leben gab es in letzter Zeit einige einschneidende Veränderungen. Richtig?“
Miko nickt und ihre Miene verdüstert sich. „Mein Papa ist vor zwei Jahren gestorben,“ haucht sie leise. „Und in der Schule läuft es nicht so richtig. Mama ist deshalb wütend auf mich.“
„Deine Mama ist vor allem wütend auf sich selbst, weil sie denkt, dass sie es nicht verdient hat, glücklich zu sein.“
Ihre Augen weiten sich. „Weshalb sollte sie so etwas denken?“
„Es hat mit alten Mustern in ihrem Leben zu tun, doch das erkläre ich dir ein anderes Mal.“ Taboa rutscht von der Bettkante. „Erst einmal möchte ich dir gerne etwas zeigen.“ Er reicht ihr die Hand. „Möchtest du mit mir kommen?“
Miko spürt eine treibende Kraft in ihrem Innern. Ein Urvertrauen zu dem Jungen, das tief aus ihrem Herzen zu kommen scheint. Sie nickt und greift nach seiner Hand.
„Ja,“ sagt sie entschlossen.
„Und was ist mit mir?“ erklingt eine empörte Stimme hinter ihr. Miko wirbelt erschrocken herum und blinzelt mehrmals hintereinander, weil sie kaum glauben kann, was sie da sieht. Domino, ihr Teddy, rappelt sich hoch und tapst mit plüschigen Beinchen auf sie zu. Er verschränkt die kleinen Ärmchen vor seiner Brust und sieht sie aus anklagenden Knopfaugen an.
„Ich will auch mit,“ sagt er schmollend.
„Domino,“ haucht Miko und ist ganz aus der Fassung. „Du kannst ja sprechen.“
„Natürlich kann ich sprechen.“ Er zwinkert ihr zu.
Miko ist völlig aus dem Häuschen. Ihr langjähriger, treuer Freund ist zum Leben erwacht. Sie nimmt ihn auf den Arm und drückt ihn fest an sich. „Oh, Domino. Du weißt ja gar nicht wie glücklich ich bin.“ Sie schmiegt ihre Wange an sein flauschiges Gesicht und Domino lässt sich das nur zu gerne gefallen.
„Taboa, darf Domino mitkommen?“
„Die Entscheidung liegt ganz bei dir.“
„Dann kommst du natürlich mit,“ sagt sie zu ihrem Teddy, der vor Freude in die Luft springt.
„Wohin gehen wir denn überhaupt?“ will sie jetzt wissen.
„Wir machen eine kleine Reise,“ antwortet Taboa.
„Eine Reise,“ wiederholt Miko mit großen Augen. „Dann muss ich ja noch einen Koffer packen.“
„Nein, nein, das ist nicht nötig.“ Er schüttelt den Kopf.
„Aber meinen Rucksack, den will ich schon mit nehmen.“
Noch bevor Taboa widersprechen kann, hüpft Miko auch schon aufgeregt umher. Sie kramt ihren Rucksack hervor, packt eine Taschenlampe, eine Packung Kaugummis, ihr Tagebuch und einen bunten Schal hinein. Zu guter Letzt schlüpft Domino in die Tasche, so dass nur noch sein Köpfchen heraus guckt.
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