1 ...8 9 10 12 13 14 ...40 Unter der Dusche half ihr die Monotonie des über ihren Kopf prasselnden Wassers, ihre Gedanken in geordnete Bahnen zu lenken. Sie legte sich einen Tagesplan zurecht, der aus folgenden Stationen bestand: Sie würde sich hinüber nach Brickrow begeben - ob zu Fuß oder mit dem Bus, wusste sie noch nicht. In Brickrow würde sie dann das Stadtarchiv besuchen, danach das Archiv der lokalen Zeitung, das im selben Gebäude war, und sie würde ihren gesamten detektivischen Eifer darauf verwenden, alles über die Brickrow Grammar School und insbesondere das Schulgebäude zu erfahren. Die Gelegenheit dazu musste sie nutzen, solange der Fotofilm in der Entwicklung war, denn sie befürchtete, dass sie keinen Gedanken mehr an ihren Aufsatz verschwenden würde, wenn sie die Fotos erst einmal in Händen hielte. Vorausgesetzt natürlich, dass die Kamera auch wirklich das festgehalten hatte, was Cassandra mit eigenen Augen gesehen hatte.
Sie wusste nicht, was sie denken sollte, wenn die Fotos nicht mehr zeigten als natürliche Landschaftsbilder. Nachdem sie eine Nacht darüber geschlafen hatte, fiel es ihr schwerer denn je, den gestrigen Vorfall als reales Geschehnis zu akzeptieren.
War es denn real gewesen? Es fühlt sich so fadenscheinig an, wie die Erinnerung an einen Traum.
Sie beendete ihre Dusche, föhnte sich die Haare und ging dann nach oben, um sich anzuziehen. Der Wetterdienst hatte für heute nasskaltes Wetter und Regenschauer vorhergesagt. Davon merkte sie allerdings nichts. Das Thermometer am Fenster zeigte sechsundzwanzig Grad. Darum trug Cassandra ein dünnes schwarzes Kleid am Leib, als sie wieder herunterkam. Zuvor hatte sie sich sorgfältig davon überzeugt, dass ihre Unterwäsche nicht durch das Kleid schimmerte.
Bevor sie das Haus verließ, trank sie einen Schluck Orangensaft aus der Flasche. Auf dem Weg zur Tür fiel ihr dann ein, den Fotofilm und etwas zum Schreiben mitzunehmen. Ach ja, und Geld. Die Aufregung machte Cassandra ganz zerstreut.
Was mochte nur auf den Fotos zu sehen sein?
Als sie alle Dinge, die sie mitnehmen wollte, zusammengekramt hatte, stellte Sie fest, dass ihre Kleidung nicht genug Taschen hatte, um alles darin zu verstauen. Genaugenommen hatte ihr Sommerkleid keine einzige Tasche. Frustriert griff sich Cassandra ins Haar und rieb sich den Kopf. Was jetzt? Sollte sie eine der Handtaschen ihrer Mutter mitnehmen? Nein, Cassandra war kein Handtaschen-Typ. Sie hasste es, wenn diese Dinger einem an der Schulter baumelten und die Bewegungsfreiheit einschränkten. Außerdem machten sie einen kokett. Cassandra hasste es, kokett zu sein. Sie seufzte und stieg noch einmal die Treppe hinauf.
In ihrem Seelenbalsam-Zimmer, dessen meditative Atmosphäre nur durch das gezeichnete Auge an der Korkwand gestört wurde, zog Cassandra die Schublade mit der Unterwäsche heraus. Dort zwischen ihren Slips, lag etwas, das ihr nützlich sein könnte. Cassandra fand es und zog es heraus.
Was sie in der Hand hielt, war eine kleine schwarze Kunststofftasche, die stark an ein Holster für eine 22er Pistole erinnerte. Sie ließ sich mit Hilfe eines Gurtes mit Klettverschluss am Oberschenkel befestigen. Mit dieser Tasche am Bein sah Cassandra aus wie eine Geheimagentin, die ein Pistolenholster am Strumpfband trug.
Der Fotofilm und ein paar Geldscheine passten mühelos in die Tasche, aber der Notizblock passte nicht. Er war zu breit. Genervt warf Cassandra ihn auf das Bett und verstaute statt dessen nur den Kugelschreiber.
Würde das Messer vielleicht hineinpassen?
Wieder an der Schublade durchwühlte Cassandra ihre Slips, bis ihre Finger auf ein Gewicht trafen. Sie holte ihren Glücksbringer hervor: Ein meisterhaft verarbeitetes Armeemesser. Das Messer war ein Sammlerstück, das keinerlei Abnutzungserscheinungen aufwies. Den Griff aus dunklem Holz, in dem die Klinge eingeklappt war, zierte eine Gravierung. In der rötlich-schwarzen Maserung des Holzes stand in goldenen Lettern: Lara.
Sie küsste den Griff und raffte ihr Kleid zusammen, um zu sehen, ob das Messer in die Tasche passte. Sie hatte es noch nie in dieser Tasche mit sich geführt, aber sie stellte fest, dass es passte, wenn man es diagonal hineinlegte. Der Reißverschluss ging gerade noch zu.
Als sie das Kleid losließ und ein paar Schritte tat, fiel ihr wieder ein, wieso sich diese Tasche als Fehlkauf entpuppt hatte. Sie kratzte bei jedem Schritt am Oberschenkel, und das einseitige Gewicht brachte Cassandra ein leichtes Hinken ein, wie bei einem schlechten Cowboy- Imitator.
Scheiß drauf, dann muss die Welt mit einem Revolverhelden mehr auskommen.
Sie ging die Treppe hinunter und zur Haustür. Jetzt hatte sie soweit alles. Der Notizblock fehlte, aber sie konnte sich im Archiv Papier borgen.
Sie schloss die Tür hinter sich ab und machte sich auf den Weg zur Busstation. Mit diesem kleinen Lustmolch am Schenkel, würde sie bestimmt nicht nach Brickrow laufen.
2
Cassandra rannte wie bekloppt zur Busstation, aber sie kam zu spät. Der verdammte Bus fuhr ihr vor der Nase davon. Nur ein gewaltiger Staubpilz blieb zurück. Fluchend und stolpernd kam Cassandra zum Stehen, und rang nach Atem. "Verdammt nochmal, konntest du nicht eine Sekunde warten?", brüllte sie.
Sie sah auf den Busfahrplan, obwohl sie wusste, dass der nächste Bus erst in einer halben Stunde kommen würde.
Was jetzt?
Zu Fuß würde sie mindestens anderthalb Stunden brauchen, bis zur Schule. Von dort bräuchte sie nochmals eine Stunde bis nach Brickrow, und zwar nur bis zur Stadtgrenze.
Aber eine halbe Stunde warten wollte sie auch nicht. Daher beschloss sie, die Strecke zu teilen - bis zur Schule zu laufen und von dort mit dem Bus nach Brickrow zu fahren. Schließlich war sie nicht fußfaul. Wenn nur diese verdammte Hitze nicht wäre.
Sie marschierte los.
Wenn man zu Fuß zur Schule wollte, gab es zwei Wege. Der erste war die Landstraße. Cassandra konnte ihr folgen und bis direkt vor das Schultor laufen. Das war der schnellere Weg. Und mit Sicherheit der tödlichere.
Wenn du gestern keinen Sonnenstich bekommen hast, dann wirst du ihn mit Sicherheit heute bekommen, Comtessa. Wenn du diese verdammte Landstraße hinunterläufst.
Auf der gesamten Länge der Landstraße, bis hinab nach Brickrow, stand kein einziger schattiger Baum. Genaugenommen stand dort gar nichts, das einen Schatten warf, der breiter war als ein Verkehrsschild.
Also der zweite Weg.
Cassandra verließ die Straße und lief nach links hundert Meter weiter ins offene Feld, wo parallel zur Straße ein mittelgroßer Bach floss. Der Bach hatte keinen Namen, und die Schüler nannten ihn einfach Pissrinne. Er floss verdeckt von grünem Gras, quer durch die Grasebene, bis zur Rückseite der Schule, wo er in einen offenen Kanal gezwängt wurde und zu einem Teil des simplen Abwassersystems wurde, das noch aus dem vor-vorigen Jahrhundert stammte.
Früher hatte Cassandra in den Schulpausen neben anderen Kindern an der Pissrinne gespielt und oft seltsame Entdeckungen gemacht. Zumeist tote Frösche, oder gruselige Insekten ( gruselhaft , hatte Cassandra das genannt). Einmal hatte sie einen besonders ekligen weißen Wurm gefunden, der so lang war wie ihr kindlicher Unterarm, und hatte ihn in den gewölbten Händen auf das Lehrerklo getragen. Das wuselnde Gefühl in ihren Händen hatte sie vor Ekel zittern lassen, aber sie hatte durchgehalten, bis sie dem Wurm ein neues Zuhause in einem wassergefüllten Waschbecken geben konnte. Cassandra wusste bis heute nicht, was aus dem Wurm geworden war, nachdem er entdeckt worden war, aber an den Schrei der Lehrerin, die ihn entdeckt hatte, konnte sich noch die halbe Schule erinnern.
Um auf den Bach zurückzukommen: der war so gut wie unsichtbar, bis man direkt vor ihm stand, aber man konnte sehr gut erkennen, wo er entlangfloß, weil eine dünne Baumreihe ihn begleitete. Es waren nur vereinzelte Bäume, die links und rechts am "Ufer" wuchsen, aber genau das war es, was Cassandra suchte: den Schatten von Bäumen. Sie würde dem Bach und den Bäumen folgen, bis zu der Stelle, an dem der Bach ein Kanal wurde und die Bäume sich zu dem kleinen Waldstück verdichteten, das in Cassandras Zeichnung den “Lidschatten” des großen Auges bildete. Auf diese Weise würde sie hinter der Schule herauskommen und über den Schulhof zur Busstation laufen. Kein Sonnenstich würde sie auf der Landstraße dahinraffen.
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