Das war sie also, die allererste Tonkonserve, die ich auf die Menschheit losgelassen habe. Ob sich einer der Empfänger die Kassette jemals ganz angehört hat, bezweifle ich. Ich rechne ihnen hoch an, dass alle genug Anstand besaßen, mir kein ehrliches Feedback zu geben.
Obwohl ich in Amerika ein richtiger „Kotzbrocken“ war, bin ich meiner amerikanischen Austauschmutter mehr als geplant ans Herz gewachsen. Sie war die erste Person, die meine Persönlichkeit durchschaut hat. Ich weiß nicht mehr den Anlass, aber einmal sagte sie: „Oh, what a child, never a dull moment!“ („Was für ein Kind, nie ein langweiliger Moment!“) Welch ein Kompliment! Mein Abschied aus Amerika nach einem Jahr war für sie so hart, dass die Familie Miller nach mir nie wieder einen Austauschschüler aufgenommen hat. Eine leichte Flugangst dämpfte meine Wehmut. Über den Wolken hatte ich die ganze Zeit „Don’t Let Me Down“ von den Beatles im Kopf. So schwer wie für meine Gastmutter war es für mich aber nicht, denn ich ging von zu Hause weg und kam in mein anderes Zuhause zurück.
Geburtstag in Amerika. Links: Massayoshi, rechts: Randy.
1983: Zurück in Deutschland – Martin Berger schreibt auch Songs!
Mein Amerikaaufenthalt verschaffte mir einen riesigen kreativen Schub. Zurück in Lübeck schrieb ich jede Menge Songs. In der Schule hatte ich ein Jahr ausgesetzt und beging darum das Kurssystem der dreijährigen Oberstufe mit lauter neuen Mitschülern. Quasi so, als wäre ich sitzengeblieben. Obwohl die mich noch gar nicht kannten, wurde ich in einigen Kursen spontan zum Kurssprecher gewählt. Vielleicht haftete mir der Nimbus des weisen Weitgereisten an? Viel wichtiger aber war eine schicksalhafte Begegnung, ein wahrer Sechser im Lotto: In den Leistungskursen Musik und Englisch traf ich auf einen Seelenverwandten: Martin Berger schrieb genau wie ich Songs!!! Und ein großer Beatles-Fan war er auch. Damit hatte „John“ seinen „Paul“ gefunden! Unsere allererste Begegnung hat Martin allerdings als wenig schmeichelhaft für mich in Erinnerung. Angeblich bat er mich zu Beginn der ersten Stunde, einen Platz weiter zu rutschen, was ich mit einem charmanten „Nein!“ quittierte. Fing eine der wichtigsten Freundschaften meines Lebens wirklich so spröde an? Nun gut, das erste Aufeinandertreffen mit Sebastian ja auch...
Die kluge Wahl meiner Leistungskurse sorgte dafür, dass ich nicht viel für die Schule tun musste. So hatte ich genügend Zeit, mich auf meine Songs und die bald zu gründende Band zu konzentrieren. Dass ich später ein Abitur mit einem Schnitt von 1,8 baute, war nebensächlich. Rückblickend weiß ich, dass im Herbst 1983 meine „Berufsausbildung“ begann.
Das musikalische Beschnuppern in der allerersten Session gestaltete sich mit Martin wesentlich einfacher als zwei Jahre zuvor mit Sebastian. Ich war von ihm nicht weniger beeindruckt als von Sebastian! Wir trafen uns in der Wohnung seiner Mutter am Lübecker Stadtpark. Die Kassette Nr. 17 in meinem chronologisch sortierten Archivregal dokumentiert diese historische Begegnung. Martin setzte mich an eine kleine Orgel, schlug das Beatles-Songbook auf – und wir jammten los! Hatte Sebastian mich vor gut zwei Jahren mit der E-Gitarre umgehauen, so tat Martin das jetzt mit seiner Stimme. Ich war sowieso etwas eingeschüchtert, weil er fast zwei Meter groß war. Aber als er losröhrte, hörte ich zum ersten Mal in meinem Leben Rockgesang live!
Als Songschreiber-Team ergänzten wir uns perfekt: Martin war unser Sänger. Er spielte gerade gut genug Gitarre und Klavier, um komponieren zu können. Meine Stimme war damals noch schwach, aber dafür war ich bereits ziemlich firm an den Tasten. Somit blieb mir die Begleitstimme.
Nach und nach wagte ich mich über zweite Stimmen auch an den Lead-Gesang (die Hauptstimme) heran. Am Anfang ließ ich Martin noch meine Songs singen. Er legte sich dabei voll ins Zeug. „Du liebst sie“ oder „Burnt Out Heart“ („Ausgebranntes Herz“) hätte ich damals wie heute nicht so hinbekommen wie er! Inhaltlich lagen wir auch auf einer Wellenlänge. Wir waren beide im „Club der einsamen Herzen“. Zu schüchtern, um Mädchen anzusprechen. Stattdessen schrieben wir traurige Liebeslieder für sie. Andreas Braun kam einmal sehr entspannt von einem gemeinsamen Urlaub mit seiner Freundin auf Föhr wieder und ermutigte uns, Frauen nicht nur zu besingen, sondern auch im realen Leben zu begegnen. Wir würden sonst nämlich etwas verpassen. Doch das fand leider nicht statt. Bei Martin nicht, weil er vermutlich zu wenig Vertrauen in sein eigenes optisches Potential hatte. Wenn mein Vater von ihm sprach, nannte er ihn stets nur despektierlich „Yeti“ , nach dem riesigen, behaarten Schneemenschen. Und bei mir nicht, weil es für mich nur Eine gab, in die ich mich im Spätsommer 1979 unsterblich verliebt hatte. Und die war unerreichbar.
1983: Ein Satz macht mich zum Bandleader mit viel Einsatz.
Nachdem Martin und ich unsere Songs – ich schrieb damals im Schnitt zwei pro Monat – regelmäßig im Musikleistungskurs (wegen der Musik) und im Englischleistungskurs (wegen der Sprache) vortrugen, war für mich sonnenklar, dass das Ziel eine richtige Band sein musste. Die Stelle des Lead-Gitarristen war natürlich mit Sebastian zu besetzen, und ich erinnere mich daran, Andreas Braun etliche Male nach der Schule abgefangen und so lange auf ihn eingeredet zu haben, bis er schließlich nachgab und zusagte, bei uns zu trommeln. Über einen Bass machten wir uns erst mal noch keine Gedanken.
Also trudelten Martin, Sebastian und ich eines Tages im Keller der Drogerie Braun ein, die Andreas Vater in der Schönböckener Straße betrieb. Dort standen sowohl ein Drumset, als auch ein Klavier, denn Andreas bereitete sich auf sein Schlagzeugstudium an der Musikhochschule Lübeck vor. Mit diesen beiden Instrumenten war der kleine Abstellraum, der kaum Stehhöhe hatte, eigentlich schon gut ausgefüllt. Sebastian brachte einen Verstärker für seine E-Gitarre in Stellung, und Martin schaffte es irgendwie, sich mit seinen stolzen 1,96 m in einer Ecke zusammengefaltet vor ein Mikrophon zu quetschen. Bevor wir loslegten, schloss Andreas noch das winzige Kellerfenster, damit die Nachbarn nicht belästigt wurden, und konstatierte lachend, unsere Band würde „anaerob“ proben. Dass ein Training ohne Sauerstoff angeblich besser sei als ein aerobes, war zu der Zeit gerade ein großes Thema im Sport. Von irgendwoher bekamen wir dennoch genug Luft, um in dem winzigen Raum einen grauenhaften Lärm veranstalten zu können. Ich musste mich beim Spielen tief über das Klavier beugen, um es überhaupt zu hören. Hinter mir hockte Martin, der mir seine Knie in den Rücken bohrte und aus Leibeskräften in ein viel zu leise eingestelltes Mikrophon brüllte. Zum Glück hielt ausnahmsweise kein Kassettenrekorder diesen akustischen Mega-Gau fest, so dass nicht nur die Nachbarn davon verschont blieben, sondern auch die Nachwelt.
Aber ich war restlos begeistert! Ich spielte in einer Band! Dass ich wieder nicht zu hören war, war unwichtig. Andreas bezeichnete das Klavier bei uns später als „das weiche Etwas, das durch den Raum wabert. Aber wenn es nicht da wäre, würde man es vermissen“ . Gleichzeitig behauptete er, dass unsere Songs am besten zur Geltung kamen, wenn sie nur vom Klavier begleitet wurden. War das bereits eine prophetische Ahnung für mein heutiges Wirken als „Piano Man“? Aber damals war „Rockband“ für mich das große Ziel! Und so stand nach der Probe sonnenklar ein großes Fragezeichen im Raum. Ich schaute mich um und war gespannt, wer von den anderen darauf kommen würde. Aber die packten nur seelenruhig ihre Instrumente ein. Jeder war mit sich selber beschäftigt. Also stellte ich die überfällige, wegweisende Frage: „Wann proben wir wieder?“ Dieser eine Satz machte mich zum Bandleader, und der unermüdliche Einsatz für die Band sollte in den nächsten Jahren mein Leben bestimmen.
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