Wie bei meinem heimlichen Spiegelspiel hatte ich Mühe, mein Denken wieder zu normalisieren. Diese Sensibilität zu dämpfen.
Da stand Carola in der Tür. Vielleicht hatte sie schon länger da gestanden, ohne dass ich sie bemerkt hatte.
"Ich wollte Sie um Verzeihung bitten." Ihre Stimme klang schwach und gequält.
"Sie wissen ja nicht, wann Sie an Dinge rühren, die Wunden in mir aufreißen. Ihre Hilfe in der Küche .... warum fragt mich einer so spät, so spät, so spät!" Carolas Stimme steigerte sich in ein Schreien, in diese verzweifelte Anklage.
"Warum erst ein Fremder?"
Kraftlos lehnte die Frau - sie wirkte jetzt tatsächlich alt und fahl - gegen den Türstock. Ganz leise murmelte sie jetzt vor sich hin, dass ich Mühe hatte, sie überhaupt zu verstehen:
"Ich wollte einfach nicht, dass sich auch nur der Keim dieses Gefühls in mir festsetzt. Ich habe Betonplatten darüber gewälzt. Habe mich im Frieren geübt. Kälte über mich gezogen. Bitte hassen Sie mich. Bleiben Sie kalt. Beleben Sie nicht Gefühle, die ich mir nun auch nicht mehr leisten kann."
Ich war aufgestanden. Auf Carola zugegangen. Hätte sie in den Arm nehmen wollen. Hätte ihr Gesicht in meine Hände genommen wie diese letzte Rose im Garten. Hätte sie gewärmt. Aber war es nicht genau das, was sie sich so leidenschaftlich verbat?
"Carola, Verzeihung, Frau Pfänder, wenn dies der Preis ist, um den Sie mir Ihr Chalet vermieten, dann fürchte ich, ihn nicht bezahlen zu können. Es sei denn, wir schafften es tatsächlich, uns aus dem Wege zu gehen, als seien wir nicht existent. Aber selbst, wenn Sie morgen nachhause fahren und erst in einigen Wochen wiederkommen, ich bin gewiss, diese wenigen Stunden, seit ich Sie zum ersten Mal sah, haben mehr in mir bewirkt als .... als, na ja, als irgendein Abenteuer mit einer heißen Frau."
"Ronikoff, ich bitte Sie. Bleiben Sie ein Irgendwer. Bleiben Sie neutral. Kalt. Überschreiten Sie die Grenze nicht. Ja, nicht einmal das Niemandsland. Aber ich glaube, für diese Warnung ist es schon zu spät."
Ihre Stimme war wieder laut geworden. Laut warf sie die Tür zu und lief die Treppe hinunter. Dann hörte ich, wie die Haustür hinter ihr ins Schloss fiel und sie in raschen Schritten über den Kiesweg davonrannte.
Wie zerrissen sie war!
Und ich!
Sollte, musste ich ihr nicht folgen? Konnte ich sie allein in diese schwarze Nacht laufen lassen? Was, wenn sie sich etwas antäte?
Schnell warf ich meinen Mantel über und hastete hinaus. Horchte, ob ich irgendwelche Geräusche aufnehmen könnte, die mir hätten verraten können, wohin Carola gelaufen war. War sie im Garten? In den Wald gelaufen? Aber da gab es keine Chance für mich. Die Schwärze blieb lautlos. Nicht einmal ein Käuzchen schrie. Die Bäume standen stumm. Die Gräser waren erstarrt. Nur ganz in der Ferne hörte man das Summen von Autos.
So trat ich zurück ins Haus. Und setzte mich auf die Treppenstufen. Und lauschte. Lernte die Geräusche dieses Gemäuers zu erkennen. Das scheppernde Ein- und Abschalten des Kühlschranks. Das Tropfen eines Wasserhahns. Ein Knistern, das ich nicht zu orten vermochte. Ich sah eine Kerze und zündete sie an. Für Carola. Eine fromme Geste? Das Opfer für gute Heimkehr? Eher eine Verzweiflungstat. Und ein "Willkommen".
Irgendwann, das Licht war weit heruntergebrannt, wachte ich auf. Mein Rücken schmerzte. Eine Stunde oder anderthalb waren vergangen. Carola war noch nicht zurückgekehrt. Dabei hatte sie nicht einmal ihren Mantel übergezogen.
"Ich kann nicht nichtlieben!" sagte ich halblaut vor mich hin.
"Ich kann nicht nichtlieben!" Warum konnte ich das nicht? Nicht bei Carola. Und bei anderen Frauen? Hatte ich sie tatsächlich nicht geliebt - oder mich nicht getraut, sie zu lieben? Oder stellte sich diese Frage gar nicht?
Verzweifelt lief ich auf und ab. Holte mir meine Stablampe aus dem Auto. Ging damit durch den Garten. Leuchtete die Wege ab. Die Bank im Holzpavillon. Den Schuppen. Richtete den langen, hellen Strahl in die Richtung des Waldes. Natürlich vergeblich.
Endlich kam mir der Gedanke, sie könne zum Bauern gelaufen sein, zur Theres. Und dorthin machte ich mich auf den Weg, ihren Mantel über dem Arm. Sein Duft nach Frau, nach einer überaus gepflegten Frau, blieb mir nicht verborgen. Ein Fetisch wurde er für mich. Eine Schmusedecke. Er wärmte mich mehr als er je irgendwen gewärmt hatte. Ich legte meine Wange an das glatte Futter. Nur nichts aus den Taschen verlieren! Behutsam trug ich ihn .... trug ich sie .... wurde er in meinen Händen zu Carolas leichtgewichtigem Körper, als hätte ich ihn irgendwo aufgehoben, geborgen, um ihn in die rettende Wärme eines Hauses zu tragen. Doch war es nur ein Mantel! Nur ihr Mantel!
Es waren knapp 20 Minuten zu gehen. Der Weg trotz der Dunkelheit einigermaßen erkennbar. Ich kam mir wie im Märchen vor: Spärliches Licht aus drei kleinen Fenstern tauchte auf. Das Knusperhaus. Das Haus bei Schneeweißchen und Rosenrot. Das Haus der Sieben Zwerge. Das Räuberhaus bei den Bremer Stadtmusikanten. So kramte ich in meiner Erinnerung alle Märchen zusammen, die mir Mama erzählt hatte, und irgendwo gab es immer ein Haus in der Nacht. Einmal verhieß es Geborgenheit, ein anderes Mal Bedrohung. Nur, was konnte mir das gruseligste Szenario damals schon anhaben? Da war ja Mama. Die Erzählerin. Die Mitte. Das Auge des Hurrikans. Ihre Wärme. Stets begleitete sie mich wie ein immerwährender Schutzmantel. Und jetzt?
Die Hunde schlugen an. Liefen sie frei herum? Oder an einer Laufkette? Im Zwinger? Ihr Gebell wurde hektischer mit jedem meiner Schritte. Kleine Kläffer und ein dröhnender Bass.
Das Licht ging an. Ein Mann trat heraus. Erblickte mich. Etwas unsicher trat ich auf ihn zu. Seine Worte verstand ich nicht. Nicht einmal, ob sie mir oder den Hunden galten, die unsichtbar blieben.
"Ist vielleicht Frau Pfänder bei Ihnen? Guten Abend, ich bin der Ronikoff." Bot ihm die Hand. Aber er achtete nicht darauf. Hatte sich schon umgedreht.
"Die Carla? Vielleicht. Bei der Theres vielleicht. I' muass schaug'n. Woarten's amal. Kommen's nur rein, Herr Doktor." Eine gütige Stimme. Er stapfte in dicken, schweren Socken voraus. Öffnete die Tür zu einer lauten, geschwätzigen Stube.
"Theres, is d’Carla da? Der Herr Doktor suacht's!"
Der Herr Doktor. War ich schon eingeführt? Integriert? Ein unpassendes Wort in dieser Umgebung. Akzeptiert? Carola erschien in der Tür. Der Bauer verschwand im hinteren Flur. "Entschuldigen's mich, guat' Nacht!"
Mit ihren großen schwarzen Augen starrte sie mich an.
"Herr Ronikoff, sind Sie etwa in dieser Finsternis hierhergelaufen? Ist irgendetwas nicht in Ordnung? Sie hätten ja telefonieren können. Neben dem Küchenschrank ist so ein Haustelefon. Da sind Sie gleich mit dem Bauern verbunden. Da brauchen Sie doch nicht extra hinüberzulaufen. Kommen’s herein."
"Ich bringe Ihnen Ihren Mantel. Ich hab' mir Sorgen um Sie gemacht. Sie werden gefroren haben."
Das helle Licht der Stube blendete mich. Theres war aufgestanden und bot mir einen Stuhl.
"Mögen’s ein Schnapserl?"
"Theres, schau nur, jetzt wird’ ich auf meine alten Tage verwöhnt. Bringt der mir doch den Mantel nach. Ja, Herr Ronikoff, das ist lieb, aber das hätt's nicht gebraucht. Ich bleib ja heut' Nacht sowieso bei der Theres. Bitte fassen Sie das nicht falsch auf. Ich störe Sie dann nicht. Und die Theres ist alleweil froh, wenn's jemand zum Reden hat."
Theres stellte mir einen Obstler hin, randvoll eingeschenkt.
"Hier, wärmen's Eana auf!"
Sie war eine stattliche, auf ihre Weise gut anzusehende Frau, von sehr weiblicher Statur. Das mit blonden Strähnen durchsetzte Haar, offenbar naturlockig, einfach nach hinten gekämmt, umgab den sehr lebendigen Kopf wie ein Strahlenkranz.
"Ja, Theres, was sagst’ jetzt dazu? Ich krieg’n Mantel gebracht! Bei der Nacht!"
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