Ein wenig zu geschäftig lief sie jetzt davon und bot mir keine Chance, auf das von ihr diktierte Abkommen überhaupt zu reagieren. Die kalte Abfuhr ließ mich ein wenig benommen zurück. Nachdenklich räumte ich den Koffer aus, schob Utensilien von hier nach dort und von dort nach hier. Man musste kein Psychologe sein, um das Knistern zu spüren, das in der Atmosphäre dieses Hauses lag. Ein Knistern, wie es sich in einem Staudamm hören lässt, der brüchig wird.
Mein kleines Uralt-Radio sog neue Stationen durch die abgebrochene Antenne, die nölige Hektik österreichischer Sportreporter, Hackbrett und Viergesang zum Feierabend, den maschinellen, seelenlosen Rumsbums irgendwelcher Rock-Sounds. Ich schob Chopins 1. Klavierkonzert in den Kassettenschacht und streckte mich auf meiner Liege aus, um die ersten Takte in mich einzusaugen. Und zu warten, bis Halina Stefanskaja die Perlenklänge des Klaviers darüber legte. Musik, aus der die Stimme meiner Mutter sprach. Und meine ungestillte, unstillbare Leidenschaft.
Mitten im zweiten Satz bemerkte ich, dass Carola lauschend in der Tür stand.
"Einen Rotwein zum Abendessen?"
Ich nickte nur, um die Elegie der Klänge nicht zu stören. Carola setzte sich, sie stützte ihren Kopf auf ihre Hände. Das Haar, das sie jetzt offen trug, fiel wie ein Witwenschleier über ihr Gesicht.
Der Abend hätte gut und gern zum dritten Mal Sonnenschein gebrauchen können. Doch er blieb frostig. Wir saßen über Eck am schweren Esstisch. Die Theres hatte Wurst, Eier, Käse, Butter und dunkles Landbrot vorbeigebracht. Und Milch - obwohl ich Milch nicht runter brachte. Ich hielt mich an den dunkelroten Trollinger. Ein guter Tropfen, der mein Gemüt so recht zu stärken vermochte gegenüber dem Ölgemälde einer föhngelben Voralpenlandschaft, die mich aus einem dicken schwarzen Bilderrahmen niederzudrücken versuchte.
"Wir haben uns noch nicht über die Kosten unterhalten ...."
"Welche Kosten?"
"Nun, für Wohnen und die Wäsche und was sonst noch so zusammenkommt!"
"Ach so, also nein, für Wohnen und so brauchen Sie mir natürlich nichts zu zahlen. Ich freue mich, Ihnen unser Paradies anbieten zu können, freue mich, dass diese Wände wieder einen Sinn bekommen. Den Sinn, den sie immer hatten: künstlerischem Schaffen Ruhe und Konzentration zu bieten. Und die Vorräte? Die ergänzen Sie einfach wieder. Die Wäsche macht die Theres. Geben Sie ihr ein paar Euro, dann ist sie glücklich und zufrieden."
"Wie kommt`s, dass Sie so ein Vertrauen zu mir haben? Ich bin doch ein Wildfremder für Sie. Ein Inserent. Ein unsteter Typ. Und dann wollen Sie mir diesen Tempel hier anvertrauen. Mit allen Ihren Schätzen?"
"Ich weiß es selber nicht. Nennen Sie’s einfach Zufall. Oder Fügung. Ich lese sonst höchst selten mal die Anzeigen unter "Verschiedenes", und dann eher, um mich daran zu vergnügen. Da grüßt irgend so ein Brummelbär seine Zuckermaus. Oder es sucht "Brahmskonzert, Block R, Reihe 5, Platz 3 die Pferdeschwanzdame von Platz 4." Ja, und da fand ich dann Ihren Notruf. Erst hab’ ich ihn überblättert. Dann ging er mir nicht mehr aus dem Sinn. Schließlich rief ich Sie an. Natürlich hätte ich mich durch die Stimme täuschen können. Unser Hirn kramt dann ja irgendwelche Ähnlichkeiten heraus, mit dem oder jenem und überträgt das auf den Unbekannten. Aber als ich Ihre Wohnung sah, da war ich mir ganz sicher: Ich kann Ihnen vertrauen. Und ...."
Sie stieß mit mir an und schaute mich mit ihren traurigen, schwarzen Augen an. Die Augenränder füllten sich mit Tränen.
„Und?" fragte ich. "Was war da noch?"
Sie tupfte sich die Augenwinkel mit der Serviette aus.
"Und? Ja, wie soll ich sagen: Ich vertraue Ihrer Mutter. Das Bild .... und wie Sie über Ihre Mutter sprachen. So spricht kein Mann, der hier nächste Woche das Haus ausräumt."
So sehr ich auch spürte, dass sich hinter diesen Sätzen eine Art Liebeserklärung verbarg, so sehr blieb ich gehemmt. Ihr Wunsch, das Tabu sozusagen, nicht über sie und ihre Familie zu sprechen, blockierte eigentlich jeden weiteren Satz. Mein Vorrat an Belanglosigkeiten, mit denen ich die Konversation hätte bestreiten können, war sehr beschränkt.
"Wer sind Sie nur?" Mit dieser Frage endete unser kleines Abendessen. Ich stellte sie, als ich schon im Aufstehen begriffen war. Und so, dass sie deutlich hören konnte, ich würde keine Antwort erwarten.
"Am besten rühren Sie nicht dran. Ihre Geschichte könnte jäh in Fetzen gehen. Spuren der Liebe - Gott erhalte Ihnen Ihre heile Welt!"
Meine Hilfe in der Küche lehnte sie mit einer Schroffheit ab, wie ich sie nun schon mehrmals hatte aufblitzen sehen. Fast so, als hätte ich eine Intimzone durchbrochen. Doch traf mich’s diesmal völlig unverhofft. Es war wie ein Schlag auf die Finger eines ungezogenen Knaben. So streng beschied sie mich, als hätte ich ihr einen zwielichtigen Antrag gemacht.
So zog ich mich denn wortlos in den Oberstock zurück und suchte mein Gleichgewicht wieder durch die Musik zu finden. Mit einem kleinen Stoß Notiz- und Manuskriptblättern kauerte ich mich auf die Liege.
Es war ein fiktiver Dialog zwischen Jasmin, einer früh gescheiterten "Beziehung", und mir. Ein Streitgespräch, ob es wohl gelingen könnte, Kinder so zu erziehen, dass sie ganz ungeprägt, unbeeinflusst von den Eltern ihren Weg ins Leben gehen könnten - was ich heftig verneinte.
"Du musst doch einmal diese Fesseln abwerfen. Du kannst doch nicht ständig diesen Trott, diesen Muff, diese Pseudolehren aus Religion und Ideologie, weitervermitteln wollen. Das ist doch zum Kotzen. Wenn du dich schon nicht freimachen konntest von diesen Spinnweben einer überkommenen Zeit, dann gib doch wenigstens Kindern diese Chance!"
Ich weiß noch, Jasmin hatte mir diese Sätze ins Gesicht gebrüllt. Das hätte nichts, aber auch gar nichts mit antiautoritärer Erziehung zu tun, sondern nur mit dem sorgfältigen Umgang Erwachsener mit der Freiheit des Kindes.
"Und wenn deine Kinder dich zur Bezugsperson erwählen? Wenn sie dich imitieren wollen? Gerade weil du so bist? Wie willst du’s ihnen verwehren?"
"Dann musst du sie anderen anvertrauen. So wie in einem Kibuz. In einem Kollektiv, wo sich die unterschiedlichen Persönlichkeiten gegeneinander aufheben ...."
Jasmin, was mochte aus ihr geworden sein? Aus meiner Freizügigkeit hatte sie irrtümlich geschlossen, ich sei auch wirklich der freie Gestalter meines Lebens. Und was machte sie? Sie tobte ihre ganze Auflehnung gegen die ihr anerzogene Bravheit in verwühlten Betten aus. Nicht unangenehm für einen Mann - wenigstens für eine Episode. Doch je schlimmer sie es trieb, ich warf sie schließlich raus, als sie Spaß an ihrer Nuttenrolle fand, desto stärker bewies sie nur, wie sehr sie sich im Zwang, auf Anti-Kurs zu gehen, versklavt hatte. Sie hatte sich verboten, so zu leben und zu lieben wie ihre Eltern. Spuren, Spuren ....
Würde ich dieses Thema je bewältigen können? Ich erinnerte mich plötzlich an ein Spiel, mit dem ich mich früher immer mal in eine Art Rauschzustand versetzt hatte: Wenn ich durch die Straßen lief, begann ich, auf alle Spiegelungen zu achten. Spiegelungen in Schaufenstern, auf Autos, in Wasserpfützen, auf Messingbeschlägen. Auf einmal stellte ich fest, dass alles um mich herum voller Spiegelungen war. Es dauerte nur wenige Minuten, dann war dieser herrlich verwirrende, verzauberte Zustand erreicht und ich sah nur noch Spiegelungen. Nichts anderes mehr. Spiegelungen, nichts als Spiegelungen, Reflexe, Glitzerlichter. Daran erinnerte ich mich jetzt: Ich sah nur noch Spuren, die Menschen in uns hinterließen, die uns geliebt haben - oder Menschen in uns zurückließen, die wir geliebt haben. Plötzlich war alles voll jener Spuren, und nichts gab es, das nicht von Liebe - oder ihrer teuflischen Spiegelung: von Hass - geprägt war. Konnte man sich je, wie Jasmin es verzweifelt versucht hatte, davon befreien?
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