Aus den Augenwinkeln beobachtete sie den jungen Kerl, der mit bebenden Lippen immer wieder vor sich hin stammelte: „Oh mein Gott. Oh mein Gott. Victoria. Oh mein Gott.“ Mandy zerfetzte die Innereien, schlang sie runter, spürte, wie das warme Blut ihre Zähne umspülte. Mandy knurrte gurgelnd, während das Blut weiterhin in ihre Kehle lief. Der Geruch nach Angst umwehte ihre feine Wolfsnase. Er kam von ihm. Sie wollte Spaß haben, sie wollte ihn jagen, ihn in Sicherheit wiegen, um ihn dann brutal niederzumetzeln.
Mit schmatzenden Geräuschen zerfetzte sie den weiblichen Körper unter ihr, schlang das Fleisch hinunter und beobachtete aus den Augenwinkeln, wie der junge Mann seine Füße nachzog, die Tür öffnete und schreiend aus dem Auto kletterte. Wenn sie gekonnt hätte, hätte Mandy gelacht. So saß sie auf einem zerfledderten Haufen Mensch, hob den Kopf und heulte. Sie sprang über den Vordersitz und verfolgte die Spur ihres Opfers mit der Nase. Der Geruch von Angstschweiß, vermischt mit dem von Sex und Urin, lag deutlich in der Luft. Es fiel ihr nicht besonders schwer, seiner Fährte zu folgen, zumal er noch nicht weit gekommen war. Sie hörte sein Herz, spürte, wie es sein Blut durch die Adern pumpte. Mit wenigen großen Sprüngen hatte sie ihn erreicht, stellte ihn und knurrte ihn an.
Er warf die Arme nach oben, drehte ab und rannte in die andere Richtung, in der Marcus plötzlich in seiner menschlichen Gestalt stand, ihn packte und festhielt.
„Hey Mann“, hechelte er atemlos, „hilf mir bitte. Ein Wolf hat meine Freundin getötet. Ich glaube, er ist tollwütig.“
Die Stimme zitterte und Angstschweiß überzog den Menschenkörper. Er zappelte panisch in seinem Griff, wollte wegrennen.
„Was ist los mit dir? Lass mich los. Hilf mir … bitte …“, stotterte er fassungslos, während sich Mandy den beiden näherte.
„Bist du sicher? Der sieht doch völlig harmlos aus. Beruhig dich doch. Hey, hast du getrunken? Und das ganze Blut auf deinen Kleidern. Ich glaube, du hast deine Freundin umgebracht.“ Der Typ wagte einen kurzen Blick zu ihr nach hinten, riss die Augen auf, denn in dem Moment umgriff Marcus seinen Hals mit seiner Hand und drückte zu.
„So kranke Typen wie dich kenne ich“, zischte Marcus zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Der junge Mann keuchte, krächzte Angstlaute und ballte seine Hände zu Fäusten. Mandy roch seinen Urin, den Schweiß, seine Angst. Hunger packte sie, griff nach ihren Eingeweiden und drückte zu. Mit einem Satz hechtete sie ihrem Opfer auf den Rücken und warf es um, so dass es auf dem Bauch landete. Marcus hatte den Kerl bereits wieder losgelassen und war einen Schritt zurückgetreten. Ihre großen Pfoten hielten ihn fest, bohrten sich mit den Krallen in sein weiches Menschenfleisch.
„Hilf mir doch, hilf mir!“, schrie er mit erhobenem Kopf, versuchte sich nach vorne zu robben.
„Ich hab doch keine Zeit“, antworte Marcus nur kühl.
„Hilf mir. Bitte.“ Doch es war hoffnungslos.
Mandys Hass türmte sich in ihrem Kopf auf, ließ sie alles um sie herum vergessen, und als sie das Knacken seines Genicks zwischen ihren Zähnen hörte, war es wie Musik in ihren Ohren. Sie schüttelte den Körper wild hin und her. Wenige Sekunden danach schlug das Herz nicht mehr und das Blut sickerte nur noch langsam aus der Wunde. Sie riss ihm ein Stück Fleisch aus seiner Schulter und schlang es gierig hinunter.
Von dieser Sekunde an war alles anders. Jemand berührte sie an der Schulter. Marcus. Er hatte sich zu ihr gekniet, streichelte ihr über das graue Fell.
„Lass uns gehen, Schönheit. Willkommen in meiner Welt.“ Mandy leckte Marcus‘ Hände, stieg von der Leiche und erhob sich zu ihrer menschlichen Gestalt. Nackt und mit Blut besudelt, kam sie ihm näher, streichelte ihn über die Brust, sah ihm in die Augen.
„Was du mit mir gemacht hast … dafür kann ich dir nicht genug danken. Mein Leben für dich.“ Atemlos drängte sie sich an ihn, spürte seine Hitze, wie sich etwas regte und sich hart gegen sie presste. Sein Grinsen verschwand. Übrig blieb eine hässliche Fratze, die auf sie hinab sah. Er trat einen Schritt zurück.
„Merk dir eins, meine Schönheit. Ich bestimme, wann gefickt wird. Und das ist nicht jetzt.“ Mit kalten Augen wandte er sich von ihr ab und ließ sie stehen.
In den Wäldern von Bedburg, um 1590
«Du bist ein Monster»
Lass ihn, Raffaelus. Ich bitte dich“, Marinas Stimme senkte sich zu einem Flüstern, obwohl niemand in der Nähe war. „Er ist verloren.“ Doch Raffaelus schüttelte den Kopf, sah zu der jämmerlichen Gestalt hinüber, die sich auf dem Boden krümmte, besudelt von Blut und Schlamm. Immer wieder wie besessen aus der Pfütze trank und mit den Augen rollte, sodass zum Teil nur das Weiße zu erkennen war. Das Wesen, Marcus, kratzte sich die Arme auf, wischte sich über den Mund, zog die Nase hoch. Wasser zeichnete feine Linien in den verkrusteten Schlamm, der auf seiner Haut lag. Marina zog an Raffaelus Arm, doch der schüttelte sie ab.
„Er gehört zu unserem Rudel. Es ist meine Pflicht, ihn zu retten. Ich weiß, es ist nicht einfach, aber vielleicht gelingt es uns …“ Nachdenklich sah er zu Marcus hinüber. Er würde ihn einsperren müssen. Er dürfte kein Fleisch, kein Blut mehr zu sich nehmen, weder menschliches noch tierisches. Raffaelus hatte noch nie einen blutsüchtigen Wolf erlebt, der diese Prozedur überstanden hätte. Letzten Endes mussten sie meistens getötet werden.
„Du kannst ihm nicht mehr helfen. Niemand kann das. Er ist dem Blutrausch verfallen. Siehst du das nicht?“ Raffaelus sah zu Marcus hinüber.
Marina hatte Recht. Er war im Blutrausch. Neben ihm lag eine Frauenleiche, aus deren Kehle das Blut in den Matsch sickerte. Marcus schöpfte die rotbraune Masse in seine Hände und kippte sie auf seinem Kopf aus. Die Flüssigkeit lief über sein Gesicht und er leckte sich über die Lippen, schmatzte, stöhnte hingebungsvoll.
„Ich muss es versuchen. So weit kann die Sucht nicht vorangeschritten sein. Erst vor wenigen Wochen habe ich Adam fortgeschickt.“ Beruhigend tätschelte er Marinas Arm. Sie hatte Angst. Sie war schon lange genug auf der Welt, um zu wissen, was aus blutsüchtigen Werwölfen wurde. Einen Wolf, der im Rausch war, zurückzuholen, kostete nicht nur Geduld, sondern auch Mut, und er hatte bislang noch keinen blutsüchtigen Wolf erlebt, der die Sucht besiegt hätte. Sie blickten sich in die Augen und wussten tief im Inneren, dass eine wichtige Entscheidung bevorstand. Entweder musste er Marcus töten oder versuchen, ihn zu retten und dabei sein eigenes Leben riskieren.
„Wie lange sind wir schon zusammen, Marina?“
„Um die fünfhundert Jahre. Du weißt, ich zähle nicht nach.“ Sie fuhr sich ungeduldig durch die Haare.
„Es werden noch weitere fünfhundert Jahre werden“, versprach er, strich ihr über die Wange.
„Hör auf, Raffaelus. Ich mag keine Gefühlsduseleien.“
Raffaelus strich sich durchs Haar, straffte die Schultern und ging auf die Gestalt zu, die sich im fahlen Mondlicht im Dreck suhlte.
Wenn sie Marcus in den Griff bekommen könnten, wäre er eine Bereicherung für das Rudel. Seine Kraft, sein Durchsetzungsvermögen würden das Rudel stärken.
Hinter ihm sog Marina zischend Luft ein, er spürte ihre Nervosität.
„Warte!“, hielt sie ihn zurück und griff nach seinem Arm. Raffaelus drehte sich zu ihr und sie zog ihn an sich, legte ihre Lippen auf seine und küsste ihn lange.
Raffaelus trat auf einen Ast, der laut knackend unter seinen Füßen zersprang. Das Geräusch schreckte Marcus hoch. Wie ein wildes Tier blickte er um sich. In seiner menschlichen Gestalt musste er den Wolf mit aller Gewalt zurückgedrängt haben. Auch, dass er auf die Umgebung achtete, war ein Zeichen dafür, dass Marcus nicht verloren war. Also war es noch nicht zu spät. Aber es war allerhöchste Zeit …
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