„Was für ein Scheißtag“, murmelte er sauer.
„Komm, du Wrack, wir gehen Kaffee trinken“, forderte Emma ihn auf. „Danach fahre ich ins Krankenhaus und du gehst am besten duschen.“
Hintereinander fuhren sie ins Büro. Nach einer großen Tasse mit starkem Kaffee und viel Zucker sah die Welt für Paul schon wieder besser aus. Er trank aus, spülte die Tasse, trocknete sie ab und stellte sie wieder ins Regal. Paul wusste, dass Emma allergisch gegen Unordnung war. Er dachte immer: Wer weiß, was sie damit kompensieren muss. Sie arbeiteten schon fünf Jahre zusammen, aber er wusste fast nichts über ihr Privatleben. Sie lebte allein und war damit glücklich und zufrieden. In ihrem Job war man allein sowieso besser dran. Und obwohl Emma eine atemberaubend schöne und kluge Frau war, hatte er noch nie einen Annäherungsversuch unternommen. Sein Motto war: Niemals auf der Arbeit ficken. Das brachte nur Unruhe.
Die beiden kamen gut miteinander aus. Emma arbeitete gerne mit Paul zusammen. Mehr kam für sie nicht infrage. An einer Beziehung oder auch nur an Sex war sie nicht interessiert. Wenn sie nach Hause kam, wollte sie entspannen. Sie las viel, schaute gerne Horrorfilme und ging ab und zu essen oder etwas trinken.
Mona war ihre beste und einzige Freundin, seit sie Kinder waren, aber sie hatte einen Mann und zwei Kinder. Damit fehlte ihr oft die Zeit für einen Frauenabend. Ab und zu trafen sie sich zum Kaffeetrinken, aber entweder war Mona in Eile oder die Kinder waren dabei. Das ging Emma dann schnell auf die Nerven, denn die beiden sechs- und achtjährigen Jungen wurden antiautoritär erzogen und bestimmten das Leben ihrer Eltern wie kleine Terroristen. Man tat, was die Kinder wollten. Emma atmete jedesmal auf, wenn sie wieder ihre Ruhe hatte.
Natalie war nach Hause gefahren. Thomas die Kehle durchzuschneiden hatte sie sich nicht so spannend ausgemalt, wie es letztendlich gewesen war. Jemandem einen kleinen Stoß zu geben und so aus dem Leben zu befördern war das eine, aber selbst Hand anzulegen und zu töten war intensiver gewesen als alles andere. Es war besser als gutes Essen, besser als ein heißes Bad im Winter und besser als Sex. Sie hatte im Licht der stärker werdenden Blitze zugesehen, wie das Leben im wahrsten Sinne des Wortes aus ihm herausgeflossen war.
Sie stellte sich unter die Dusche, ließ das angenehm warme Wasser über Haare und Körper laufen und wickelte sich dann in ein Handtuch, um sich an das Fenster zu setzen. Draußen tobte das Gewitter wie ein wild gewordener Stier und unendliche Wassermassen ergossen sich in den Straßen des Ortes, um dann rasant den Weg ins Tal zu finden. Natalie war weit genug oben und musste nicht befürchten, Opfer einer Überschwemmung zu werden.
Sie musste lächeln, als sie an ihre Kindheit dachte. Immer, wenn ein Gewitter war, stand sie mit ihrer Schwester am Fenster und zählte die Blitze und die Sekunden zwischen Blitz und Donner. Für jede Sekunde war es einen Kilometer entfernt, hatte Opa gesagt. Und Opa hatte immer recht. Opa hatte auf alles eine Antwort, schaute in den Himmel und sagte, was für ein Wetter es geben würde. Er schnupperte morgens aus der Haustür. Dann entschied er, ob es regnen, schneien, stürmen oder heiß und sonnig werden würde.
Nach einem Gewitter liefen die Mädchen barfuß durch die Pfützen vor dem Haus. Das Wasser war warm und die Luft wunderbar abgekühlt.
Natalie stand auf, warf das Handtuch über einen Stuhl und ging ins Bett. Entspannt und innerlich ruhig schlief sie ein.
Nach einem langen arbeitsreichen Wochenende, das an diesem Sonntag mit einer schnellen Banane endete, legte sich Emma auf die Couch. Sie war im Krankenhaus gewesen, aber als sie die Leiche erwähnte, zitterte der Winzer nur und bekam kein Wort heraus. Die Krankenschwester hatte sie in Richtung Tür geschoben.
„Sie sehen doch, dass er noch unter Schock steht. Kommen Sie morgen wieder oder rufen Sie an. Und jetzt raus hier. Der Patient braucht Ruhe.“
Unzufrieden ging Emma am Montagmorgen zu ihrem Auto und fuhr ins Präsidium. Dort saß ein duftender, frisch geduschter und frisierter Paul Schegerts am Schreibtisch und trank einen Kaffee. Als Emma sich ihm gegenüber an ihren Platz setzte, stand er auf und holte ihr auch eine Tasse Kaffee. Im Laufen goss er einen großen Schluck Milch in die braune Brühe.
„Danke. Der Typ im Krankenhaus ist noch nicht wieder beisammen. Schock, sagt die Schwester. Was hast du gemacht außer Schönheitsreparaturen?“
„Ist das ein Kompliment? Das wäre ja mal etwas ganz Neues aus deinem Mund. Ich habe in der Gerichtsmedizin angerufen. Sie waren nicht erfreut, aber den ersten Infos zufolge ist er an der durchtrennten Kehle gestorben. Er hatte Lippenstift im Gesicht. Was für ein Glückspilz. Wahrscheinlich war er vorher schön ficken und wollte sich auf dem Heimweg die Beine vertreten.“
Emma hasste Paul für seine derbe Ausdrucksweise. Aber sie ahnte, dass er damit etwas vertuschen wollte. Vielleicht war er aber auch einfach nur ein Arsch.
„Mehr nicht?“, fragte sie gelangweilt. „Linkshänder? Rechtshänder? Todeszeitpunkt? Weiß man, wer der Typ war?“
„Ja, in seiner aufgeweichten Hosentasche war seine Brieftasche mit Ausweis. Er hieß Thomas Bückau und war gerade mal so alt wie ich, als er das Zeitliche gesegnet hat. Aus Eltville. Bachstraße. Er hat dort die letzten Tage allein gelebt. Eigentlich war das eine Wohngemeinschaft, aber der andere Typ ist zum Arbeiten in die Schweiz abgereist. Das ist auch sicher. Er hat dort vor einigen Tagen in ein Hotel eingecheckt und geht regelmäßig zur Arbeit. Der kann es also nicht gewesen sein. Warum auch. Weil der Mitbewohner den Putzplan nicht eingehalten hat?“
Emma rollte mit den Augen. Sie antwortete nicht auf die dummen Sprüche ihres Kollegen. Stattdessen loggte sie sich in den Computer ein und suchte die Wegbeschreibung in die Bachstraße. Dann stand sie auf, nahm ihre Jacke vom Haken und sah Paul an.
„Komm, wir befragen die Nachbarn!“, forderte sie ihn auf.
Emma drehte sich um und verließ das Büro. Paul wusch noch die Tassen ab und folgte ihr dann eilig zum Parkplatz, wo sie sich an die Beifahrertür seines Autos gelehnt hatte.
Als er den Motor startete, sagte sie streng: „Und bitte lass mich reden. Du bist heute wieder sowas von pietätlos. Ich will mich nicht blamieren.“
Paul grinste und gab Gas.
Natalie stand vor dem Regal mit dem Müsli und suchte nach ihrer Sorte. Das mit Schokoflocken aß sie gerne. Hoch oben im Regal entdeckte sie die letzte Schachtel. Sie stand ganz hinten an der Rückwand und Natalie sah sich nach einem von den Hockern um, die manchmal im Supermarkt herumstanden.
„Kann ich helfen?“, fragte eine sanfte, tiefe Stimme.
Natalie drehte sich um und schaute in zwei schwarze Augen. Die schwarzen Haare und der Bart rahmten ein schönes, gebräuntes Gesicht ein.
„Müsli. Mit Schokoflocken. Da oben!“
Natalie zeigte hilflos mit dem Zeigerfinger nach oben. Der schlanke Südländer reckte sich, griff nach der Packung und stellte sie lächelnd in Natalies Einkaufswagen. Sie warf einen Blick auf seine Einkäufe. Zeig mir, was du isst und ich sag dir, wer du bist. Das hatte ihre Oma immer gesagt.
Im Einkaufswagen des Mannes befanden sich Milch, Tomaten, eine Gurke, Vollkornbrot in Scheiben und zwei kleine Tafeln dunkle Schokolade.
Er war ihrem Blick gefolgt.
„Schokolade. Ohne die kann ich nicht leben.“
Natalie nickte.
„Das kenne ich. Ein Tag ohne Schokolade ist wie ein Lied ohne Melodie. Ich bin Natalie.“
Sie streckte ihm ihre Hand entgegen. Er griff danach. Die wunderbaren dunklen Augen zeigten unverhohlen seine Bewunderung für die schöne blonde Frau.
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