1 ...6 7 8 10 11 12 ...18 Erst durch die dumpfe Innenbeleuchtung des Autos erkannte Yassir, dass der größere Polizist nicht anwesend war.
„Nein, danke“, lehnte er ab.
Der Mann zuckte mit den Schultern und fuhr los.
„Ach da fällt mir ein, dass der Polizeichef Sie sprechen wollte. Wenn es Ihnen keine Umstände macht, bringe ich Sie zuerst zum Präsidium, bevor ich Sie nach Hause fahre.“
Gedankenverloren blickte Yassir aus dem Seitenfenster. Längst überhört hatte er die Worte.
***
Noch zu später Stunde saß Polizeichef Iraj am Schreibtisch, wo er konzentriert einige Dokumente studierte. Hin und wieder legte er ein Blatt nieder, um darauf seine Signatur zu hinterlassen. Erst spät blickte er auf und bemerkte, dass Yassir in der offenen Tür stand.
„Aghaye Navid, sagen Sie doch etwas. Bitte treten Sie ein.“ Ein warmes Lächeln verzierte seine Lippen.
Wortlos betrat Yassir das Büro und blieb direkt vor Iraj stehen.
„Sie fragen sich wahrscheinlich, warum ich Sie noch einmal sprechen wollte.“
„Ja, das tue ich.“
Das Lächeln Irajs verblasste langsam und die gewohnte Ernsthaftigkeit trat wieder zum Vorschein.
„Ich bin von Natur aus ein neugieriger Mensch, Aghaye Navid“, fing der Polizeichef seine Rede an. „Ich weiß nicht woran es liegt, aber ich habe ständig das Bedürfnis, über alles und jeden Menschen gut informiert zu sein. Ich brauche Informationen sozusagen, wie die Luft zum Atmen.“
„Welche Informationen fehlen Ihnen denn, Aghaye Iraj?“
„Zum Beispiel, was hat dieser Bursche mit Ihnen vor? Was erhoffen Sie sich von den Treffen mit ihm?“
Yassir fühlte sich zu kraftlos für ein solches Gespräch, daher versuchte er mit Mühe den Respekt zu wahren.
„Natürlich will ich meinen Sohn wiederfinden. Das ist mein einziges Ziel.“
„Vielleicht wäre es besser, wenn Sie die Sache auf sich beruhen lassen. Der Richter hatte zwar seine Zustimmung für ein solches Arrangement gegeben, aber ich hielt es von Anfang an für reine Zeitverschwendung.“
„Das können Sie nicht von mir verlangen“, sagte Yassir. „Das ist die einzige Chance meinen Sohn wiederzufinden. Wenn ich die nicht nutze, werde ich es bis ans Ende meines Leben bereuen.“
Iraj atmete einmal tief durch. Sein Blick drückte mitleidiges Bedauern aus.
„Vielleicht habe ich mich gerade nicht deutlich ausgedrückt, als ich meine Frage stellte. Wie hoch denken Sie sind Ihre Chancen Ihren Sohn wiederzufinden?“
„Was sollen diese Fragen?“ Nun wurde Yassir etwas lauter. Er befand sich am Ende seiner Kräfte und das Gespräch zehrte an seinen bereits angeschlagenen Nerven.
Eine Zeit lang schwiegen beide.
„Wissen Sie etwas, was ich nicht…“
„Ich möchte Sie nur vor diesen Hussein warnen. Er ist ein sehr gerissener Bursche. Ehe Sie sich versehen, können Sie zur Marionette seines listigen Spiels werden. Also bitte ich Sie, sehen Sie sich vor.“ Iraj war ihm direkt ins Wort gefallen.
„Wissen Sie etwas, was ich nicht weiß?“
Angespannt nahm er sich die Schirmmütze vom Kopf, die er mit beiden Händen zerknüllte. In gewohnter Manier zog Iraj seine Stirnfalten hoch, das machte ihn älter. Dann schüttelte er den Kopf.
„Nein, das ist alles.“
***
„Morgen um zehn werde ich Sie wieder abholen“, kündigte der Polizist an, als er in die kleine Gasse einbog. „Mein Name ist übrigens Mehran und mein Kollege, der heute nicht mitkommen konnte, heißt Omid.“
Argwöhnisch blickte Yassir durch das schwarze Gitter.
„Ich dachte nur, das wäre angebracht, da wir uns die nächsten Tage sehen werden“, fing Mehran an zu stottern, als Yassir immer noch schwieg.
Das Auto verlangsamte sich und blieb schließlich vor seiner Behausung stehen. Drinnen brannte Licht. Nia war noch wach und erwartete wieder eine Antwort. Am liebsten wollte Yassir weiterfahren, um die Nacht in einem Hotel zu verbringen. So sehr fürchtete er ihre Reaktion. Wut, Hass und Enttäuschung würden wieder in ihr aufleben, wenn sie wüsste, wie Bassam gelitten hatte. Doch dann stieg er aus und Mehran fuhr weg. Sehnsüchtig blickte Yassir dem Wagen nach.
Nia stand im Badezimmer, wo sie sich ihre Haare kämmte und sich dabei im Spiegel betrachtete. Eine ganze Weile stand Yassir hinter ihr und beobachtete sie. Er fand sie trotz ihrer grauen Strähnen und Fältchen im Gesicht immer noch wunderschön. Jeden Tag dankte er Allah dafür, dass er Nia begegnet war. Auch in Zeiten, in denen sie ihm ständig Vorwürfe wegen Bassam gemacht hatte, war er dankbar sie als Frau zu haben. Als sie ihn bemerkte, trat sie näher und küsste ihn sanft auf die Lippen. Sie nahm ihn an die Hand und führte ihn in die Küche. Die Ruhe, die sie ausstrahlte, überraschte Yassir, so dass er nicht einschätzen konnte, was ihn erwarten würde. In den letzten Tagen hatte sie sich ernorm gewandelt. Ein falsches Wort würde alles wieder zerstören.
„Setz dich und erzähl mir alles“, meinte sie.
„Nia, ich weiß nicht, was ich dir da sagen soll.“ Ratlos strich Yassir ihr über die Schulter.
„Irgendetwas, was mir wieder Hoffnung schenkt.“
„Er hat mir bisher nicht verraten, wo Bassam ist, nicht mal andeutungsweise. Er hat mir nur erzählt, wie er unseren Sohn kennengelernt hat. Erst wenn ich seine Geschichte gehört habe, wird er es mir sagen.“
Yassir wollte aufstehen, doch sie ergriff seine Hand, die sich weich anfühlte.
„Dann werde ich morgen mitkommen. Ich werde mit ihm reden. Er wird eine trauernde Mutter besser verstehen, als dich.“
„Das geht nicht. Er hat es verboten“, log Yassir nervös. „Eine Bedingung von ihm war, dass nur ich anwesend bin, wenn er mit mir redet, sonst wird er schweigen.“
Abrupt ließ Nia seine Hand los und die Sanftmütigkeit verschwand aus ihrem Gesicht. Sie verließ die Küche und ließ ihn allein.
Während der Nacht schlief Yassir kaum. Sein Kopf war voller Gedanken, vielmehr voller Sorgen. Nia, die mit dem Rücken zu ihm gewandt auf dem Bett lag, hatte nach dem Gespräch in der Küche, kaum mehr ein Wort mit ihm gewechselt. Keuchend stützte sich Yassir auf und saß eine Weile auf der Bettkante, von wo er das Foto auf dem kleinen Nachtschrank betrachtete. Es war nur einen Monat vor Bassams Entführung geschossen worden. Darauf war zu sehen, wie er Bassam, der in T-Shirt und einer bunten Sommerhose gekleidet war, auf dem Arm trug. Das Gesicht des Jungen strahlte vor Freude. Einige seiner schwarzen Locken hatten seine Stirn bedeckt. Nia stand daneben und drückte Bassam einen Kuss auf die Wange. Bei dem Anblick kamen Yassir fast die Tränen. Er versuchte seine Trauer zu unterdrücken, weil Nia ihn nicht so sehen sollte.
Er verließ den Raum, um sich in die Küche zu setzen. Das Foto nahm er mit. Auf dem Stuhl sitzend hielt er den Messingrahmen und die Sehnsucht nach seinem Sohn wuchs ins Unermessliche. Alles würde er die nächsten Tage für Bassam auf die Schulter nehmen. Dafür würde er jede qualvolle Wahrheit, die Hussein ihm geben würde, ertragen. Sein Entschluss stand fest: Diesmal wollte er dafür sorgen, dass sie wieder eine glückliche Familie sein würden.
Drei Stunden vor Mehrans Ankunft ging Yassir noch einmal aus dem Haus. Eine beruhigende Stille lag über der Stadt. Nur wenige Menschen kamen ihm in den engen Gassen entgegen. Aus der Ferne lockte ihn bereits die Stimme des Muezzins, die die morgendliche Ruhe wie ein Schwert durchschnitt.
Jungen mit bunten Rucksäcken auf dem Rücken kamen ihm laut schreiend entgegen gerannt. Sie waren vermutlich auf dem Weg zur Schule. In jedem ihrer kleinen Gesichter erkannte Yassir seinen Bassam. Es schmerzte ihn, sodass er sie nicht lange ansehen konnte.
Die Moschee war nicht mehr weit und die Stimme des Muezzins wurde lauter. Nicht besonders groß war das Gebäude, aber es wirkte trotzdem pompös. Braungelbe Backsteine waren mit unglaublicher Präzision aufeinandergesetzt worden. Lange, schmale Türme umzingelten die runde Kuppel, wie einen Gefangenen.
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