„ Du hast es mir versprochen“, bettelte ich und hielt meinem Baba das Schahbrett entgegen.
Mit einem Nicken stimmte er mir schließlich müde zu und brachte mir die Regeln bei.
„ Das Spiel erfordert Grips und List“, begann mein Vater, während er die Holzfiguren aufstellte. „Du musst deinem Gegner immer einen Schritt voraus sein und ihn zu Fehlern zwingen. Der Schah und die Dame werden zu Beginn in die Mitte gestellt… “
Es dauerte eine Zeit bis ich die Regeln vollständig begriffen hatte, obwohl sie mir mein Vater ausführlich und lange erklärt hatte. Das erste Spiel gewann er, wie auch das zweite. Bassam betrat mit dem Korb die Hütte und begann, das Feuer zu schüren, das uns in den kalten Nächten Wärme spendete. Immer wieder schaute er neugierig auf den Tisch. Meine Mutter schlief bereits auf der Pritsche, als wir die dritte Partie begannen. Die trockenen Äste knisterten im Ofen und es breitete sich eine wohlige Wärme im ganzen Raum aus.
„ Du wirst besser“, meinte mein Baba nach den ersten Zügen.
Seine Worte machten mich so stolz, dass ich übers ganze Gesicht strahlte.
Schweigend stand Bassam neben dem Tisch und verfolgte unser Spiel.
„ Hast du nichts zu tun!?“, schimpfte mein Vater, als er bemerkte, dass Bassam schon eine Weile gedankenversunken auf das Brett starrte. „Das ist nichts für dich. Du bist zu dumm dafür.“
Ängstlich zog Bassam sich in seine Ecke zurück und schloss die Augen. Gleichmäßig hob und senkte sich sein Brustkorb, bis er in den tiefen Schlaf gefallen war.
„ Ja, gewonnen“, rief ich vor Freude, als ich meinen Vater Schachmatt setzte und Bassam durch meinen Aufschrei hochschreckte. Neckisch lächelte mein Baba mich an, sodass ich meine Zweifel bekam, ob er mich nicht vielleicht gewinnen ließ.
„ Du hast extra verloren“, beschuldigte ich ihn.
„ Nein, hab ich nicht“, beschwichtigte mich Siamak. „Du hast das Spiel halt schnell verstanden und bist besser geworden.“
Ich wollte mich nicht mit ihm streiten, deswegen beließ ich es dabei. Bis heute habe ich allerdings meine Zweifel, ob ich wirklich die dritte Partie gewonnen habe oder mein Vater mir einfach ein Erfolgserlebnis schenken wollte.
***
„ Kannst du es mir beibringen?“, fragte Bassam und sah mich mit großen Augen an.
„ Du hast doch gehört, was Siamak gesagt hat“, meinte ich. „Du wirst es nicht verstehen.“
„ Bitte, zeig es mir. Ich will es wenigstens versuchen.“
Da meine Mutter ins Dorf gegangen war und mein Vater noch auf dem Feld arbeitete, ließ ich mich von Bassam überreden, der sich aufgeregt an den Tisch setzte. Misstrauisch über seine Euphorie begann ich die Holzfiguren aufzustellen, so wie es mir mein Baba gezeigt hatte.
Bassam verfolgte aufmerksam jede Handbewegung, als wenn er so die Geheimnisse des Schahspiels entschlüsseln konnte. Ich stellte sogar seine Figuren auf, weil ich es ihm nicht zutraute.
„ Willst du die Schwarzen oder Weißen?“, fragte ich das Brett vor- und zurückschiebend.
„ Die Schwarzen“, antwortete Bassam, wobei er seinen Blick nicht vom Schahbrett losreißen konnte.
Er verstand die Regeln erstaunlich schnell, sogar schneller als ich, was mich sehr wunderte. Daher fragte ich mich, wie mein Vater sich täuschen konnte. Vielleicht war Bassam nicht so dumm, wie wir alle dachten.
Wir spielten vier Spiele und alle gewann er. Mit jeder Niederlage wurde ich zorniger. Ich konnte einfach nicht begreifen, wie mich Bassam so demütigen konnte. Wohlüberlegt tat er jeden Zug und tippte sich dabei mit dem Zeigefinger auf sein Kinn. Die List, die man für dieses Spielt benötigte, schien er zu haben. Neidvoll sah ich dabei zu, wie er jeden Zug von mir zunichte machte oder zu seinem Vorteil kehrte, bis ich beim letzten Spiel die Geduld verlor.
„ Du mogelst doch!“, brüllte ich und schmiss das Brett vom Tisch. Die Figuren rollten in verschiedene Richtungen. Einige unter die Pritsche, andere sogar unter den Gussofen.
„ Nein, das stimmt nicht“, verteidigte sich Bassam.
„ Doch, du hast mich betrogen!“, schrie ich.
Bassam schwieg und begann, die Figuren vom Boden aufzuheben, während ich enttäuscht aus dem Haus lief. Seitdem habe ich lange Zeit keine einzige Partie mehr gegen ihn gespielt.
Die darauffolgenden Tage redete ich mit ihm kaum, obwohl er nichts falsch gemacht hatte. Bassam erledigte die Aufgaben, die Elham ihm auftrug und wurde gelegentlich von meinem Baba zurechtgewiesen. Ansonsten schlief er viel, bis meine Mutter ihn wieder weckte, damit er weitere Hausarbeiten verrichten konnte.
„ Kannst du nichts richtig machen!?“, brüllte ihn mein Baba eines Tages an. „Du bist zu nichts zu gebrauchen, zu nichts. Hast du mich gehört!“
Da Bassam hungrig war, hatte er sich hastig ein Stück von dem frischeren Brot genommen. In den Augen meines Babas ein schweres Vergehen. Denn die guten Lebensmittel durfte er nicht essen.
„ Es war keine Absicht, Siamak“, stöhnte er, während er sich schützend seine Hände auf den Kopf legte.
Ich war noch wegen des Schahspiels wütend auf Bassam und wollte ihn daher nicht mehr verteidigen. Mit verschränkten Armen sah ich dabei zu, wie Siamak ihn grob an die Schulter packte. Heute kann ich nicht verstehen, wie ich so herzlos und bösartig sein konnte. Ich war nun mal ein Kind, die manchmal sogar grausamer als jeder Erwachsene sein konnten.
„ Das passiert nicht noch mal“, meinte mein Baba warnend, während er Bassam drohend anblickte und ihm das Brot langsam entriss.
Wenn ich heute zurückblicke, erfüllt mich mein Herz mit Reue. Wieso nur haben wir unseren Bassam so schlecht behandelt? Es ist eine Frage, die mich jetzt noch quält.
***
Immer noch saß Yassir im Schneidersitz auf dem Boden. Die Fassung, die er kurzzeitig wiedererlangt hatte, hatte sich verflüchtigt.
„Was habt ihr meinem Sohn angetan?“, sagte er zunächst leise. „Was habt ihr ihm nur angetan!?“ Nun schrie er ins Loch hinein. Seine Finger griffen angespannt um die Gitterstäbe. Von unten kam eine Zeit lang keine Antwort.
„Es ist fast dunkel. Sie sollten jetzt besser nach Hause fahren.“
Yassir spürte plötzlich eine Hand auf seiner Schulter.
„Er hat recht. Es ist Zeit zu gehen“, sagte eine Stimme hinter ihm.
Erschrocken fuhr Yassir herum. Einer der beiden Polizisten stand plötzlich da. So sehr hatte ihn die Erzählung des Gefangenen entsetzt, dass er das Motorengeräusch des Polizeiautos nicht wahrgenommen hatte.
„Nein, warten Sie.“ Aufgebracht riss sich Yassir los. „Ich muss noch mit ihm reden. Hörst du mich da unten!“
Doch die einzige Antwort, die er bekam, war seine eigene Stimme, die als Echo wieder vom Grund hinauf hallte.
„Das bringt nichts“, meinte der Polizist. „Wenn der nichts sagen will, bekommen Sie nichts aus dem heraus. Selbst wenn man ihm die Scheiße aus dem Leib prügelt.“
Yassir raufte sich die Haare und erhob sich.
„Wenn Sie jetzt nicht kommen, fahre ich einfach ohne Sie los“, warnte der Polizist und machte sich wieder auf den Weg zum Dienstwagen.
Die Sonne war schon zur Hälfte untergegangen. Es sah so aus, als wenn sie vom Erdboden verschluckt worden war. Stiller kam es Yassir hier vor als am Vortag. Ein leichter Wind umwehte seine Nasenspitze und unter seinen Sohlen knirschte das Gestein. Müde ließ sich der Polizist hinter das Steuer fallen, während Yassir die Hintertür öffnete.
„Sie können auch vorne sitzen, wenn Sie wollen.“
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