Yassir blieb das Essen fast im Halse stecken, als er die Veränderung in ihrer Stimme hörte. Seine Kaubewegungen verlangsamten sich. Nia war aufgestanden und ins Schlafzimmer gegangen, wo sie sich ausgezehrt ins Bett legte. Yassir hielt es nicht mehr länger aus. Hastig stürmte er ins Zimmer. Sie hatte ihre Augen geschlossen und tat so, als würde sie bereits schlafen.
„Was erwartest du von mir!? Ich habe dich unzählige Male auf Knien um Verzeihung gebeten. Denkst du etwa die Erinnerung an Bassam, würde mir nicht das Herz zerreißen. Ich habe damals alles versucht ihn ausfindig zu machen.“
„Wag es nicht seinen Namen auszusprechen“, zischte sie, nachdem sie sich wieder aufgerichtet hatte.
„Soll ich tot umfallen!? Willst du das von mir!? Selbst wenn ich vor Reue sterben sollte, wirst du deinen Sohn nicht mehr in den Armen halten können.“
„Hör endlich auf!“, schrie sie den Tränen nahe. „Ich will dich einfach nicht mehr sehen.“
Es klopfte, was den Streit zwischen ihnen unterbrach. Völlig aufgewühlt ging Yassir zur Haustür, die er nur einen Spalt öffnete. Das wenige Licht, das eindrang, reichte aus, um den ganzen Raum zu erhellen. Vor ihm standen zwei uniformierte Polizisten. Beide mit Schnauzbart. Der eine allerdings etwas kleiner, als der andere. Trotzdem hätten sie Brüder sein können.
„Yassir Navid!“, sagte der Größere in militärischem Tonfall.
„Ja“, bestätigte Yassir und zog die Tür weiter auf.
„Ich muss Sie bitten, mit uns zu kommen. Der Polizeichef will Sie sprechen.“ Nun meldete sich auch der Kleinere zu Wort. Der Mann wirkte ungeduldig.
„Wollen Sie mir nicht erst erklären, worum es geht. So kommen Sie doch bitte rein.“
„Na gut“, meinte der Große und betrat schweigend das Haus. Neugierig blickte er sich um.
Sein Kollege trat sich die Schuhe ab, bevor er folgte. Eilig wollte Yassir Teewasser aufsetzten, aber ein Polizist hob die Hand und gab ihm zu verstehen, dass es nicht nötig war. Yassirs Herz klopfte. Er wusste schließlich nicht, was diese beiden Herren von ihm wollten. Hatte er vor Kurzem gegen ein Gesetz verstoßen?
„So setzen Sie sich doch.“
Die Polizisten folgten seiner Aufforderung und nahmen am Küchentisch Platz, auf dem noch die fast vollen Schüsseln standen. Yassir eilte zu den Fenstern und zog überall die Vorhänge wieder auf. Der Raum wurde in helles Licht getaucht.
„Haben wir Sie gestört?“, fragte der Große, während er auf den gedeckten Tisch deutete.
„Nein, ich war schon fertig“, log Yassir. Das kaum angerührte Essen entblößte die Lüge.
„Was wollen Sie von mir?“
„Es geht um ihren Sohn, Bassam Navid.“
Yassir stockte der Atem. Beunruhigt blickte er Richtung Schlafzimmer. Nia schien schon eingeschlafen zu sein.
„Wie bitte?“
„Genaueres kann ich Ihnen auch nicht sagen, aber es gibt da jemanden, der weiß, wo er sich befinden könnte.“
„Mein Sohn, sind Sie sich sicher, mein Bassam!?“ Yassir konnte den Polizisten kaum in die Augen blicken. Zu sehr stand er nach diesen Worten unter Schock. Seine Zunge war wie gelähmt und sein Blick panisch. Neunzehn Jahre hatte es keine einzige Spur von Bassam gegeben und jetzt tauchten diese Männer wie aus dem Jenseits auf und nährten seinen Schmerz.
„Wie gesagt, die genauen Details besprechen Sie bitte mit dem Polizeichef. Wir werden Sie umgehend dorthin fahren.“ Fast gleichzeitig waren die beiden Männer aufgestanden, nachdem sie wieder ihre Mützen vom Tisch genommen hatten. Nur der Kleinere setzte sie sich auf. Der andere klemmte sie unter den Arm und ging auf die Haustür zu.
„Was sagten Sie da?“ Die Stimme hinter ihnen ließ Yassir zusammenzucken.
Nia stand in der Küche, mit verweinten Augen blickte sie die Polizisten an.
„Nia… .“Yassir trat ihr einen Schritt entgegen.
„Bassam könnte noch am Leben sein. Ich habe es genau gehört.“
Yassir drückte sie zurück, aber Nia stemmte sich mit all ihrer Kraft gegen ihn.
„Lass mich!“, brüllte sie. „Ich werde mitkommen.“
„Du weißt doch gar nicht, was dahinter steckt. Bleib zu Hause und schone deine Nerven. Ich werde dir alles berichten, sobald ich wieder zu Hause bin.“
Yassir wandte sich um.
„Bitte gehen Sie schon mal vor. Ich komme sofort.“
Die beiden Polizisten blickten sich ratlos an und verließen das Haus.
„Nia, ich weiß, dass es hart für dich sein wird, aber du musst erst hierbleiben. Vielleicht sind es nur haltlose Informationen, die ins Nichts führen. Wenn du dir jetzt zu große Hoffnungen machst, wirst du ein zweites Mal daran zerbrechen.“
Eine schallende Ohrfeige traf seine Wange. Entsetzt über ihre eigene Tat, blickte Nia ihm in die Augen. Ihre hingegen füllten sich langsam wieder mit Tränen. Er nahm sie liebevoll in die Arme. Seit einer Ewigkeit war er ihr nicht mehr so nahe gewesen. Ihre Wärme tat ihm gut. Wortlos drehte sie sich um und ging zurück ins Schlafzimmer.
***
Das gleißend helle Licht schmerzte. Seine Augen mussten sich erst daran gewöhnen. Yassir hielt sich die Hand schützend vor das Gesicht. Der kleine Polizist saß bereits am Steuer, während sein Partner rauchend am Wagen lehnte. Als er Yassir erblickte, warf er die Zigarette umgehend in den Staub, wo die Glut ein letztes Mal aufglomm.
Während der Fahrt waren beide sehr schweigsam. Yassir saß auf der Hinterbank, die durch ein schwarzes Metallgitter von der Fahrerkabine getrennt war. Gelegentlich blickte der Große zurück, um mit ihm ein paar Worte zu wechseln. Small Talk, ansonsten kein Wort über seinen verschwundenen Bassam. Der Fahrer schwieg die ganze Fahrt lang.
„Stammen Sie aus Teheran?“, fragte der Polizist.
Yassirs Antwort bestand nur aus einem Nicken. Für so ein belangloses Gespräch fehlten ihm in diesem Moment die Nerven.
„Ich komme aus Kisch, ist ne Insel im Süden. Ich mag die Hauptstadt eigentlich nicht. Zu viel Lärm, zu viele Menschen, schlechte Luft …“
Yassir nahm die Worte nur als unklares Hallen wahr. Aus dem Seitenfenster konnte er sehen, wie Hochhäuser und Lehmhütten an ihm vorbeisausten. Alte Bauten eingezwängt zwischen der Moderne einer Metropole. Kinder jagten einem braunen Lederball nach, was in Yassir augenblicklich die Erinnerung an Bassam hervorrief. Ihm war schlecht und er spürte ein Druckgefühl in der Brust.
„Halten Sie den Wagen an“, rief er plötzlich.
Sie befanden sich gerade auf einer Brücke. Das Auto kam ruckartig zum Stillstand. Yassir stieß die Tür auf und bückte sich über das Geländer. Beide schauten ihm im Wagen sitzend dabei zu, wie er sich übergab. Yassir war es mehr als unangenehm. Keuchend krallte er sich am Stahlgeländer fest, während er auf die Straße, die unter der Brücke herführte, hinunterblickte. Die Autos rasten wie Blutkörper über die pulsierenden Adern aus Asphalt. Über seine Schulter hinweg bemerkte er, dass den beiden Polizisten die Situation genauso unangenehm war. Starr schauten sie durch die Frontscheibe ihres weißen Opels. Yassir brauchte noch einen Moment, bevor er wieder ins Auto stieg. Etwas fester zog er die Seitentür zu, die beim Zufallen ein dumpfes Geräusch von sich gab. Die Fahrt wurde unmittelbar fortgesetzt. Etwas schneller als vorher fuhr der Fahrer sogar. So schnell wie möglich wollten sie ihn zur Polizeistation bringen. Beide sprachen über ihre Ehefrauen und Kinder. Keiner von ihnen wagte es noch, ein weiteres Gespräch mit ihm zu suchen.
Endlich erreichten sie ihr Ziel. Die Polizeistation war von einem schwarzen Eisengitter umzäunt. Vor dem feudalen Eingang flatterte die iranische Flagge an einer hohen Stange im heißen Sommerwind.
„Wir werden hier auf Sie warten“, sagte der Kleine. „Nachher bringen wir Sie wieder heim.“
Beide blieben auf der Treppe stehen und unterhielten sich. Mühsam stieg Yassir die Stufen hinauf. Mit der ständigen Furcht im Nacken, was ihm in diesem riesigen Gebäude erwarten würde. Andere Polizisten kamen ihm entgegen. Alle gekleidet in gestriegelt aussehenden Uniformen.
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