Der Polizist zog ein Taschentuch aus der Hemdtasche seiner grauen Uniform, das er Nia reichte. Sie trocknete sich damit ihre tränenbenetzten Wangen.
„Ich bin mir sicher, dass es ihrem Sohn gut geht. Er ist bestimmt nur zu einem Freund gelaufen. Solche Vorfälle haben wir ständig.“
„Wir haben schon alle Eltern benachrichtigt“, meinte Yassir und verlor allmählich die Geduld. „Starten Sie doch eine Suchaktion.“
Der Polizist schmunzelte, woraufhin Yassir fast in Rage geriet.
„Das geht nicht so einfach“, meinte der junge Mann. „Ihr Sohn muss erst einige Stunden verschwunden sein, bis wir die Erlaubnis für so etwas bekommen.“
Yassirs Kopf dröhnte und er verspürte das Verlangen, den Gesetzeshüter an die Wand zu drücken, fing sich aber wieder.
„Können Sie denn gar nichts machen?“
„Ich muss mich an die Vorschriften halten. Außerdem hat die Polizei von Teheran noch viele andere Fälle zu lösen. Ich kann Sie nur bitten sich in Geduld zu üben.“
„Wie können Sie so etwas sagen?!“, brüllte Yassir. „Mein Sohn läuft da draußen alleine rum. Vielleicht hat ihn schon irgendein Verrückter entführt!“
Der junge Mann massierte sich nachdenklich seinen fleischigen Nacken.
„Bitte suchen Sie meinen Sohn. Bitte, ich flehe Sie an. Allah wird es Ihnen danken.“ Nia hatte den Arm des Polizisten ergriffen, der sich löste und langsam von ihr distanzierte.
„Es tut mir leid“, sagte er, während er sich die schwarze Schirmmütze wieder aufsetzte. „Kommen Sie nach ein paar Stunden aufs Präsidium und geben Sie eine Vermisstenanzeige auf. Mehr kann ich leider nicht für Sie tun.“
Nia wollte wieder zu ihm stürzen, aber Yassir hielt sie fest. Er drückte sie an seine Brust, in der er schweren Druck fühlte. Der Polizist drehte sich ein letztes Mal um, bevor er in die Abendsonne Teherans trat. Plötzlich stieß Nia ihren Mann kräftig von sich. Ihre braunen Augen sprühten vor Hass.
„Das ist alles deine Schuld, du hast ihn allein gelassen“, zischte sie.
Yassir fing sich eine Ohrfeige, die er wie eine Bestrafung hinnahm. Verlegen blickte er auf den Boden.
„Du hast ihn allein gelassen, meinen Bassam, mein Baby!“, schrie sie, während sie mit ihren Fäusten auf ihn einschlug. Yassir konnte ihr einfach nicht widersprechen, da er wusste, dass sie recht hatte. Er drückte sie noch mal fest an sich, dass sie nicht mehr zum Schlag ausholen konnte. Ihre Muskeln erschlafften. Sekunden später vernahm er nur noch ein Schluchzen. Der Stoff an seiner Brust tränkte sich langsam mit ihren salzigen Tränen.
„Es wird alles gut, alles gut“, tröstete er sie, während er über ihr schwarzes, langes Haar strich.
19 Jahre später
Teheran, 17.Juli.2006
„Ist der Himmel nicht wunderschön“, seufzte Yassir, während er nach dem Glas mit der Zitronenlimonade griff. Das Kondenswasser perlte bereits an der Außenseite ab. Er saß auf dem Dach seiner Behausung. Neben ihm lag Nia auf einem Liegestuhl und blickte, wie hypnotisiert in den Himmel. Keine Wolke war zu sehen und die schwüle Hitze war drückend. Das Blau breitete sich wie eine unendliche Leinwand über ihnen aus. Yassir blickte zu ihr rüber, aber sie ignorierte ihn. Seit dem Verschwinden Bassams schien der Zorn auf ihn kaum nachgelassen zu haben. Aus der einst lebensfrohen Frau war ein verbitterter Mensch geworden. Yassir erkannte sie kaum noch wieder. Nachts hatte er sogar das Gefühl, als läge eine völlig Fremde neben ihm. Auch äußerlich hatte sie sich im Laufe der Jahre enorm verändert. Ihr geschmeidiges, schwarzes Haar war wellig geworden und von grauen Strähnen durchzogen. Auf ihrem Gesicht hatte die Zeit einige Falten hinterlassen. Ein Lachen hatte er schon seit Jahren nicht mehr von ihr sehen können, und wenn sie es tat, wirkte es gezwungen und es bildeten sich Krähenfüße um ihre Augen.
„Ich habe Kopfschmerzen.“ Sie stand auf und stieg durch die Dachluke runter in die Wohnung.
Yassir hatte sich an die Kälte, die sie ihm zu spüren gab zwar gewöhnt, aber es tat ihm im Herzen immer noch weh, dass sie ihn so herablassend behandelte. Die Schuld und die Trauer um Bassam hatten ihn selbst fast in den Wahnsinn getrieben. Ein Fehler, der heute noch seine Seele in Stücke riss. Seufzend trank er aus seinem Glas und spürte die erfrischende Wirkung der Kohlensäure, die seine Kehle runterlief. Er blickte über zahlreiche Häuser, die die Wärme des Tages aufnahmen und den Menschen in den kalten Nächten zugute kam. Von hier konnte er sogar die Schahid Mottahari Moschee sehen, deren bunte Kuppel einen langen Schatten auf die anliegenden Häuser warf. Die Stimme des Muezzins, der zum Abendgebet aufrief, schallte über die Dächer.
„Was soll das alles bringen“, murmelte er zu sich selbst.
Nachdem Gebet stieg er die Leiter runter. Die Wohnung lag im Dunkeln. Die Vorhänge waren zugezogen. Ein Abbild des Seelenzustands seiner Frau. Schon seit Langem hatte sie das Haus nicht mehr verlassen, geschweige denn unter Menschen gekommen. Einige Male wollte Yassir sie zum Essen ausführen.
„Es wird dir gut tun“, hatte er gesagt, aber ihre Antwort war immer die Gleiche gewesen.
„Ich will nicht, ich fühl mich heute nicht gut.“
Yassir setzte sich müde an den Tisch. Nia, die in der Küche stand, wo sie einen Fisch anbriet, blickte kurz zu ihm rüber.
„Essen ist gleich fertig“, sagte sie mit einer schläfrigen Stimme.
Am liebsten wollte Yassir seine Arme um sie legen, während sie noch am Herd stand, aber sie spürte schon lange für ihn keine Zuneigung mehr. Alles hatte sich verändert. Er hatte nicht nur sein einziges Kind verloren, sondern auch seine Frau. Stille hatte sich in der ganzen Wohnung ausgebreitet. Nur das in der Pfanne brutzelnde Fett war zu hören.
„Warte, ich helfe.“ Yassir war aufgestanden, als seine Frau begann, den Tisch zu decken.
„Brauchst du nicht“, meinte sie.
Er ignorierte ihre Aussage und gemeinsam stellten sie Schüsseln, die mit Oliven, Fladenbrot und Schafskäse gefüllt waren, auf den Tisch. Ein verlegenes Lächeln war in ihrem Gesicht zu erkennen. Sie nahm die Pfanne vom Herd und stellte sie auf die Mitte der Tischfläche.
Zögerlich setzte sie sich hin. Auf den Stuhl, der sich möglichst weit weg von ihm befand. Sie ertrug seine Nähe nicht. Selbst jetzt nicht, nach so einer langen Zeit. Einige Male hatte er, seit dem Verschwinden Bassams, versucht ihr körperlich zu nähern, aber war immer wieder von ihr zurückgewiesen worden, als würde er sie anwidern. Irgendwann hatte er es ganz aufgegeben. Durch die emotionale Kälte in ihrer Ehe hatte er sogar mit dem Gedanken gespielt, sich von ihr zu trennen, aber er machte sich Sorgen, dass sie von den Leuten geächtet sein würde. Eine geschiedene Frau war in dieser Gesellschaft nichts wert. Das wollte Yassir ihr nicht antun. Denn sie hatte genug gelitten. Trotzdem ertrug er es kaum noch sich mit ihr im gleichen Zimmer zu befinden.
Schweigend fing Yassir an zu essen. Das Dankgebet sprachen sie schon lange nicht mehr. Mit dem Verschwinden ihres Sohnes schien auch ihr Glaube verschwunden zu sein. Yassir war den ganzen Tag durch die engen Gassen Teherans gelaufen. Bei der Hitze eine Knochenarbeit, die er allerdings schon seit über zwanzig Jahren machte. Er hatte das Gefühl, dass die Ledertasche, die mit Briefen und kleineren Paketen gefüllt war, täglich etwas schwerer wurde. Dementsprechend groß war auch sein Appetit. Fleißig langte er zu und schob sich dabei gleichzeitig Fisch und Brot in den Mund. Nia aß nichts. Sie saß nur da und blickte ihn giftig an.
„Wie kannst du nur fressen wie ein Schwein, nach all dem. Wie kannst du nur so einfach weiterleben, als wenn nichts geschehen wäre.“ Wie aus dem Nichts kamen jedes Mal ihre Sticheleien.
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