Einer der XSF-Männer deutete auf den Stuhl, der direkt gegenüber des Fensters hinter dem Tisch aufgestellt war und Sajan warf Rej einen fragenden Blick zu. "Schon in Ordnung", meinte der und erntete dafür einen mitleidigen Blick. Aber Sajan gehorchte, löste ein weiteres mal die Gurte und half seinem Zellengenossen auf den für ihn vorgesehenen Platz. Der Stuhl war nicht sonderlich bequem und es fehlte die Nackenstütze, die ihm das aufrechte Sitzen erleichtert hätte. "Bis nachher", grüßte der Song-Kommendan locker, als die ShaoSetFai den Krankenpfleger wieder zur Tür hinaus schoben. Der schien sich mehr Sorgen zu machen, als Rej selbst. Denn der Widerständler war relativ gelassen. Die letzten Tage waren so hart gewesen, er wusste, dass er auch die Befragung hier überstehen konnte. Immerhin hatte er sich in einem Bett ausruhen können, seine Wunden waren frisch versorgt worden und er hatte Medikamente und etwas zu Essen erhalten.
Zwei der Soldaten fesselten ihn an den Stuhl, als ob sie fürchteten, dass er davon laufen würde. Mit Kabelbinder befestigten sie seine Arme auf den Stuhllehnen, zogen die Plastikstreifen fest, bis sie am linken Handgelenk und an der Ellenbeuge unangenehm in die Haut schnitten. Rej unterdrückte ein Fluchen, als sie ihm den rechten Arm so hin bogen, dass auch der einigermaßen parallel zu der Lehne ausgerichtet war. Stechende Schmerzen strahlten bis hinauf in seine Schulter und er versuchte sich etwas zu drehen, um die geschundene Gliedmaße zu entlasten. Einer der XSF-Soldaten registrierte seine Bewegung als störend und hielt ihn an die Rückenlehne gedrückt, während der andere mit den Kabelbindern auch den rechten Arm fixierte. Dann wurden auch seine Fußgelenke an die Stuhlbeine festgezurrt. Der Rollstuhl mit der Sauerstoffbatterie stand noch neben ihm, aber Rej war bewusst, dass er die Atemmaske nicht lange behalten werden würde. Immerhin wollte man ja, dass er ungehindert sprechen konnte. Die ShaoSetFai überprüften noch einmal die Fesseln, dann verließen sie den Raum und schlossen hinter sich die Tür.
Eine Weile saß der Gefangene im Halbdunkeln und wartete. Es kam ihm wie eine Ewigkeit vor. Er konnte nur wenig erkennen und in dem Verhörraum gab es auch so nicht viel zu sehen. Und nach nur wenigen Minuten wurde das Sitzen in dieser vorgegebenen Position immer unangenehmer. Er konnte das Gewicht nicht gut von einer Seite auf die andere verlagern, weil seine Arme fixiert waren, und den Kopf aufrecht zu halten, fiel ihm auf die Dauer sehr schwer. Und dann klopfte auch das unangenehme Gefühl wieder bei ihm an, dass er die Tage, besonders aber heute, schon öfter verspürt hatte. Es ließ sein Herz schneller schlagen und stellte ihm die Nackenhaare auf. Es war, als quoll eine düstere Masse auf ihn zu und hüllte ihn mehr und mehr darin ein. Er kippte nach hinten, wurde nach unten in einen gierigen Sog gezogen. Und es kam ihm gerade überhaupt nicht gelegen.
Vor Sajan in Panik zu geraten, oder zusammen zu brechen, das war schon peinlich genug, in diesem Rahmen hier konnte er es sich aber absolut nicht leisten. Er erinnerte sich an die Worte, die der Krankenpfleger zuvor zu ihm gesagt hatte. Atmen, er solle tief atmen. Rej schloss die Augen und versuchte sich auf seine Atmung zu konzentrieren. Seine Atemzüge waren nicht sonderlich lang, mit nur einem Lungenflügel fehlte ihm das nötige Volumen dafür, aber tatsächlich hatte es etwas beruhigendes an sich, nur auf den Sauerstoff zu hören, der sich in seinem Körper ausbreitete.
Leik Kataruh saß neugierig nach vorne gelehnt auf einem der Stühle und starrte durch die Glasscheibe, die ihn vor Blicken von der anderen Seite verbarg. Er beobachtete, wie der Pfleger den inhaftierten Song-Kommendan brachte und wie die ShaoSetFai diesen auf den Platz hinter dem Tisch fixierten. Er vermutete gespielte Gelassenheit in den Aussagen des Terroristen, deutete auch seinen desinteressierten Gesichtsausdruck als Schutz davor, verletzlich zu wirken. In dem Raum hinter dem Fenster hörte man verdammt gut, was dort gesprochen wurde. Zusätzlich zeichneten im Tisch verborgene Mikrophone alles auf. Auch Kameras lieferten Bilder aus verschiedenen Blickwinkeln von dem Inhaftierten, zeigten ihn auf Monitoren, hielten jede noch so kleine Regung von ihm fest.
Aber Leik hatte nicht vor, die Befragung von diesem Zimmer aus zu beobachten. Gerade weil er hier nur beobachten konnte und nicht Teilnehmender des Geschehens war, war es ihm lieber, näher an dem Widerständler dran zu sein. Er wollte ihn live sehen, dreidimensional, direkt vor ihm sitzend, nicht durch eine Glasscheibe von ihm getrennt und auch nicht nur über eine Aufzeichnung davon aus mehreren Blickwinkeln. Nur Auge in Auge konnte er sich selbst am besten einen Eindruck von dem gefürchteten Mann machen und so konnte er auch intervenieren, wenn die Befragung begann und in eine ungünstige Richtung zu laufen drohte. Und die Videoaufnahmen liefen nicht davon, die konnte er sich auch im Nachhinein nochmals betrachten und sie ausgiebig analysieren. Aber der echte wahrhaftige Eindruck blieb der entscheidende. Davon war Leik überzeugt. Er saß nur noch in dem Beobachtungsraum, weil er auf den Rest des Teams warten wollte.
Die Soldaten hatten mittlerweile den Raum verlassen und den Inhaftierten in gedimmtem Restlicht zurückgelassen. Erst blickte der sich um, dann zog er an seinen Fesseln, dann verharrte er in der Position, aus der er nicht entkommen konnte. Sein Beobachter hätte ein Königreich dafür gegeben, welche Gedanken in dem Kopf des Song vorgingen. Aber er musste sich für den Moment damit begnügen, was er beobachten konnte und später dann damit, was er ihnen zu erzählen bereit war. Und Leik erwartete nicht, dass Rej Lio'Ta leicht zu knacken war. Der Mann hatte schon bei seinem Prozess nicht viel Verwertbares von sich gegeben - zu hohe Erwartungen würden nur zu großen Enttäuschungen führen.
Nun schloss der Inhaftierte die Augen, sein Kopf war leicht nach vorne gesunken. Mund und Nase des Gefesselten konnte Leik nicht sehen, sie waren hinter einer Atemmaske verborgen. Vielleicht war er eingeschlafen. Leik Kataruh warf einen Blick auf das Chronometer an seinem Flugring und stellte fest, dass die beiden XSF-Beamten, mit denen er für die Befragung zusammen arbeiten sollte, sich schon um über zehn Minuten verspäteten. Für den ersten Termin war das etwas unverschämt, aber der Beobachter nahm es ihnen nicht übel. Er war als Spezialist her beordert worden, als Spezialist für Song-Angelegenheiten. Als Angehöriger vom Volk der Ttog fühlte er sich kaum emotional involviert in die Konflikte mit der Terrororganisation, aber das Gerangel um Xiantiao hatte ihn schon immer fasziniert und insbesondere die wehrhafte Gruppierung der enteigneten Norms aus Son'Gashania, die sich nun Song nannten.
Schließlich wurde die Tür aufgestoßen und zwei vom äußeren Erscheinungsbild ziemlich unterschiedliche Männer betraten den Raum. Leik waren sie schon einmal vorgestellt worden, nachdem man beschlossen hatte, den Anführer der Terroristen hier im Xiantiao Hauptgefängnis unterzubringen, aber es war nur eine kurze hektische Begegnung gewesen. Der Spezialist hätte es vorgezogen, die beiden XSF-Beamten außerhalb der Befragungen schon besser kennen gelernt zu haben, da er so nur von ihren unterschiedlichen Charakterzügen von seinem eigentlichen Beobachtungsobjekt abgelenkt werden würde, aber die Gelegenheit hatte sich nicht ergeben.
Der kleinere der beiden hatte ein rundliches Gesicht mit blassen Sommersprossen über der Nase und freundlichen, extrem übermüdet wirkenden braunen Augen unter dichten Augenbrauen. Er war ein Norm und hatte das dunkelbraune Haar gescheitelt und im Nacken zu einem Knoten zusammen gebunden. Er hatte vier Kaffeebecher aus Pappe in einem Halter bei sich, unter dem Arm eine Tasche geklemmt und hielt in der anderen, mit der er auch die Tür geöffnet hatte, eine Tüte mit Gebäck. Er redete angeregt mit dem größeren braungebrannten Mann, der ihm in den Raum folgte, und bemerkte Leik erst gar nicht. "Und dann sagt sie, sie tauscht nur mit mir Schicht, wenn ich mit ihr den Parkplatz tausche und das war es mir dann doch nicht wert. Ich meine, so ein Parkplatz ist immerhin für immer."
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