Felicitas forschender Blick blieb an ihr hängen: »Hm, Marina, auch du wirkst nicht besonders happy!«
Jetzt bloß keine Seifenopfer vor diesem Publikum ... »Ach, das täuscht. Mir geht's gut!« Marina fasste sie bei den Schultern. »Lass dich anschauen, Mädchen. Du bist eine flotte junge Dame geworden. Wohnst du noch zuhause oder hast du deine eigene Bude?«
Plaudernd schlenderten sie weiter. Die Gäste bummelten zwischen den blühenden Sträuchern umher. Alle warteten auf das Brautpaar, um das Buffet zu stürmen und sich an den aufgetürmten Köstlichkeiten zu berauschen. Auf einer Seite der Tafel plauderte Remos Familie miteinander. Auf der anderen standen mit versteinerten Mienen die aus Frankreich importierten Gäste.
»Sophia«, flüsterte Marina und deutete diskret hinüber. «Weißt du, warum die nicht miteinander reden? Ich habe die Franzosen als ein kultiviertes und höfliches Volk kennengelernt, das très charmant miteinander kommuniziert.«
Mit verschwörerischem Zwinkern zischelte Sophia: »Ich glaube, die sind sich spinnefeind. Es heißt, der kinderreiche Gatte aus der einen Sippe sei mit einer wohlhabenden Witwe aus der anderen durchgebrannt.« Dann richtete sie sich auf und sagte halblaut: »Vielleicht liegt es an der Sprache? Jedenfalls kenne ich die Leute nicht und spreche selbst kaum Französisch.«
Keiner wagte es, Platz zu nehmen, solange die Hauptakteure sich nicht zu ihnen gesellten. Doch diese posierten in den Tiefen des Parks fürs Fotoalbum.
Längst war das Leeregefühl in Marinas Magen einem animalischen Heißhunger gewichen. Sie schielte nach den Delikatessen auf dem Tisch. Mmhh! Sie schnupperte mit geschlossenen Lidern. Die gefüllten Lachsröllchen lachten sie an. Oder die Kirschtomaten mit Basilikumblättchen und Mozzarella. Ihre Hand kreiste über den Platten, bereit zum Sturzflug.
Merkt doch keiner, wenn ich blitzschnell was davon stibitze! Innerlich aufstöhnend wandte sie sich ab. Der Käse schmilzt schon! Trotzdem darf ich nicht die Tafel eröffnen, wenn die anderen so tun, als kennten sie kein Hungergefühl.
Andererseits waren sie ausdrücklich zum Umtrunk eingeladen worden, oder? Keiner konnte von ihr und Elena verlangen, dass sie völlig ausgehungert das Feld räumten, nachdem sie eine halbe Tagesreise hinter sich hatten. Einer musste hier handeln, wenn Sophia und Mike der Mut fehlte.
Nachdem sie also eine halbe Stunde über Gott und die Welt geplaudert hatten, zwinkerte Marina Elena zu. Gemeinsam traten sie an die Tafel, wo das Personal hier und da etwas kunstvoll Angerichtetes auf den Silberschalen zu retten versuchte, das in der sengenden Hitze endgültig zu zerfließen drohte.
Die Schwestern stellten ihre Gaben auf die Gedecke des verschollenen Brautpaares und winkten Sophia, deren Gemahl Mike und Felicitas herbei.
Marina reichte ihnen je ein Glas mit lauwarmem Sekt, hob ihres hoch und rief fröhlich in die Menge: »Prosit, das Brautpaar lebe hoch, hoch, hoch! Lasst es euch schmecken!«
Als hätte jemand den Startschuss zu einem Genuss-Marathon abgegeben, attackierte die Festgesellschaft nun schreiend das Büfett. Wie eine Horde hungriger Geier schlang sie innerhalb von Minuten die traurig vor sich hinschmelzenden Delikatessen bis auf die letzten Bissen hinunter. Einige tunkten ihre Fingerkuppen oder vertrocknete Brotstücke in die Soßenreste.
Wenigstens war Leben in die Statisten gekommen. Selbst die verschnupften Franzosen vergaßen ihren Disput, ihre Mienen hellten sich mit jedem Glas Sekt mehr auf. Auf einmal konnten sich alle untereinander verständigen, und sei's nur mit Händen und Füßen.
Danach verabschiedeten sich Marina und Elena von ihren Eltern und der in einer Endloswarteschlaufe verharrenden Gesellschaft.
Marina küsste Felicitas Wangen. »Besuch mich doch mal in meiner neuen Wohnung. Wir könnten auch in die Stadt zum Einkaufsbummel fahren, wenn du magst. Ruf mich an, ich würde mich riesig freuen!
Die junge Frau versprach ihr, sich zu melden.
Sophia begleitete ihre Basen mit beschämter Miene bis zum Hofeingang. »Ich bin untröstlich, ich habe Remo gesagt, er solle euch auch einladen, aber er ...«
»Schon gut, es war eben ein Missverständnis. Dafür sind wir rechtzeitig wieder zuhause.« Marina umarmte sie noch einmal und winkte ihr nach.
»Sophia hat Recht gehabt, das ist keine gewöhnliche Hochzeitsfeier«, lachte sie und deutete zum Tor. Beim Eingang wartete ein dutzend weißer Hochzeitskutschen darauf, die geladenen Gäste zu einer Fahrt durch die Landschaft aufzunehmen. Unruhig scharrten die Pferdehufe auf den Pflastersteinen.
Doch das Brautpaar blieb verschollen.
»Du sagst es!« Elena straffte sich. »Wir machen uns jetzt einen schönen Nachmittag. Ich lade dich zu einem Eisbecher ein. Danach machen wir einen ausgedehnten Einkaufsbummel, es ist Sommerschlussverkauf!«
Gegen Abend schob Marina sich mit den Einkaufstüten auf eine freie Bank im Postauto, wo eine willkommene Brise durch das Oberlicht wehte. Seufzend streifte sie die Sandalen von den Füßen und ließ sich einlullen vom Brummen des Motors. Als sie die Augen aufschlug, entdeckte sie in der Anhöhe eine von Weinlaub überwucherte Turmruine. Aus der obersten Luke hatte bestimmt Rapunzel ihre Zöpfe heruntergelassen, um klammheimlich den Prinzen zu empfangen.
Marina stieß einen abgrundtiefen Seufzer aus. Wäre ich doch am Morgen hier ausgestiegen! Ich hätte die Anlage besichtigt und mir was Hübsches ausgemalt: Ich als Burgfrau und Herr Hadebrecht als Burgherr beim gemeinsamen Ausritt und einem anschließenden Picknick zu zweit oder so ...
Zumindest hatte sie einen Rock gefunden, der beim Tanzen himmlisch mitschwingen würde. Ihre Finger glitten in die Tüte neben sich, tasteten über den glatten, in feine Plisseefalten gelegten Seidenstoff.
Zuhause befreite sie ihre geschundenen Zehen von deren Umklammerung. Dann goss sie Fruchtsaft in ein Glas, füllte es mit Wasser auf und trank hastig daraus. Was für ein Tag! Mit bleiernen Gliedern lehnte sie sich an die Kühlschranktür. Sie wollte nur noch ins Bett.
Da loderte ein Blitz in die Küche, gefolgt von einem markerschütternden Krachen. Ein Windstoß schleuderte den angelehnten Fensterflügel gegen die Wand.
Prustend stellte Marina das Glas ab, hetzte zum Fenster, kämpfte tapfer gegen die Sturmbö an und ließ die Rollläden herunter. Wie in Trance knabberte sie zwei Reiswaffeln, fuhr mit dem Waschlappen über Gesicht und Hals und schlüpfte ins Nachthemd. Im Bett schlief sie augenblicklich ein, trotz des garstigen Donnerwetters mit sintflutartigem Niederschlag.
Erst in der Morgendämmerung überfielen sie die Ereignisse vom Vortag wie eine Horde Hyänen. Sie weinte sich den angestauten Schmutz von der Seele und schlummerte bald weiter, bis ein melodisches Summen sie aus chaotischen Träumen befreite.
In Gedanken bei der bizarren Hochzeitsgesellschaft, wanderte sie am Samstagmittag kreuz und quer durch Wald und Flur. Die Natur befreite ihren Geist vom Ballast und entschädigte sie für die verpatzte Feier.
In der Nacht auf Sonntag erwachte sie jedoch aus ungereimten Phantasien und fasste sich stöhnend an den Kopf. Aaahh ... Sie massierte ihre Schläfen und hinter den Ohren, wo es hämmerte und bohrte. Vom eigenen Röcheln fuhr sie dutzende Male aus einer Art Dämmerzustand auf, wobei ihre Körpertemperatur auf neununddreißig Grad kletterte.
Schließlich richtete sie sich auf und sank stöhnend auf die Matratze zurück. Jemand hatte sie gerädert und gevierteilt! Vorsichtig rollte sie sich zur Seite. In kleinen, schaukelnden Bewegungen setzte sie ihr geschundenes Rückgrat neu zusammen. Wirbel für Wirbel renkte sich wieder ein. Im Zeitlupentempo quälte sie sich auf die Bettkante. Als sie jedoch auf ihre Wattebeine stand, sackte sie ein. Haltung bewahren, Marina, du hast nicht mal die Hälfte deines Lebens erreicht. Wie willst du die nächsten vierzig Jahre überstehen, wenn du jetzt schlappmachst, murmelte sie besorgt. Sie schlurfte ins Bad und duschte kurz. Dann machte sie ein paar Lockerungsübungen auf der Matratze. Schweißperlen bildeten sich auf der Stirn.
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