Seufzend sah sie ihm nach. Er war schwerer fassbar als ein Fisch im Wasser. Ob er ein Fische-Mann war?
»Madame, wo bleiben Sie denn?«, riss Norbert sie aus ihren Träumen.
An diesem Nachmittag lachte sie mehr als in den vergangenen Monaten zusammen. Beinah wie früher, als sie beide sich mehrmals wöchentlich trafen, tanzen gingen und Konzerte besuchten. Zum Abschied umarmte sie ihn und drückte einen dicken Kuss auf seine Wange. »Das war echt lieb von dir, Norbert. Bitte warte nicht mehr so lange, bis du mich das nächste Mal besuchen kommst, okay?«
»Ich bin gerade ziemlich engagiert«, wich er aus. In der Firma stehen mehrere Fortbildungskurse an – dann hab ich jemanden kennengelernt«, raunte er ihr mit geheimnisvoller Miene zu. »In einer Internetplattform für Partnersuchende.«
»Was, das beichtest du mir jetzt so nebenbei?«, tat sie entrüstet und versetzte ihm einen leichten Hieb.
Er entwand sich ihr und jagte die Stufen hinunter. Auf dem Zwischenboden drehte er sich nochmal um. »Absichtlich, damit du mir keine Fragen stellen kannst.«
»Das ist gemein von dir«, rief sie ihm nach und schürzte die Lippen. Dieser Geheimniskrämer! Aber Herr Hadebrecht und ich könnten ja mal was zusammen unternehmen.
Am Montag übergab der Postbote höchstpersönlich Marina einen Einschreibebrief. Argwöhnisch musterte sie die amtlichen Stempel, bevor sie unterzeichnete. Eine böse Vorahnung ergriff sie. Als sie die in dürrem Behördenstil verfasste Mitteilung überflog, entfuhr ihr ein Schreckenslaut, sie tastete nach dem nächsten Stuhl.
Was nun? Sie schaltete den PC ein, suchte Adressen von Tessiner Anwälten heraus. Danach führte sie mehrere Telefongespräche und vereinbarte einen Termin.
Ausgerechnet in diesem Gefühlsaufruhr verreiste ihr Nachbar (oh nein!) , kam am Freitagabend wieder (dem Himmel sei Dank!) , nutzte offenbar seinen Waschtag und verschwand für eine weitere Woche aus ihrem Leben (das ist jetzt nicht sein Ernst?!) .
Am übernächsten Freitagabend hörte Marina die schmerzlich vermisste Tonvielfalt aus seiner Wohnung.
Sie tollte zu Rossinis » Figaro, figaro, fiiigaro ...« durch die Räume, bis sie sich keuchend aufs Sofa fallen ließ.
Zu Wochenbeginn schoben sich im Büro Herrn Hadebrechts markante Züge vor ihre Unterlagen. Seine Augen schillerten in allen Skalen von Grün, je nach Gefühlsregung, wie es schien. Wie interessant!
Seufzend wandte sie sich ihren Aufgaben zu. Doch stattdessen hörte sie das höhnische Lachen ihres Ex-Mannes. Jochens Gebrüll und seine Beschimpfungen hallten in ihren Ohren wider. Die Erinnerung an die sinnlosen Streitgespräche, die sie gegen Ende ihrer Ehe ausgefochten hatten, übermannte sie.
Was will Jochen von mir? Sie starrte auf einen Fleck an der Wand und stemmte die Fäuste auf die Tischplatte. Höchste Zeit, dass sie etwas unternahm!
Zuhause rief sie Barbara an. »Hast du nicht was von tanzen gesagt? Ich muss dringend raus hier. Ich weiß, meine Grippe ist dazwischengekommen, aber ...«
Die Freundin lachte in den Hörer. »Du scheinst Feuer unter den Füßen zu haben! Na gut, ich nehme eine Bekannte mit, Freitagabend holen wir dich ab.«
»Super, du bist ein Schatz!« Marina legte auf und sauste zu ihrem Kleiderschrank. Mit glänzenden Augen stellte sie ihr neues Tanz-Outfit zusammen. Selbstverständlich war ein schwingender Rock dabei, der gehörte einfach dazu. Sie drapierte alles um einen Bügel, den sie mit einem tiefen Seufzer in den Schrank zurückhängte.
Wenn doch schon Freitag wäre! Ab und zu brauchte sie diese Stunden körperlicher Verausgabung bei guter Musik – außerhalb ihrer Wichtelbehausung .
Ihr Lächeln erlosch, während sie einen Hosenanzug und Accessoires aus dem Schrank nahm, die sich für amtliche Angelegenheiten eignen würden.
Jochen, wie konntest du mir das antun?
Kapitel 6 – Anwaltsbesuch im Tessin
Die Blätter an den Laubbäumen färbten sich in warmen Gelb- und Brauntönen, bevor sie sich von den Zweigen lösten und spielerisch durch die Luft segelten, oder vom rauen Nordwind in alle Himmelsrichtungen gefegt wurden.
Marina stand zeitig auf, duschte und machte sich sorgfältig zurecht. Heute stand ihr das erste Treffen mit ihrem Tessiner Anwalt, Signore Mercanto, bevor. Sie hatte sich für ihn entschieden, weil sein Mitarbeiter Deutsch verstand und bei Bedarf zwischen ihnen übersetzen würde, falls ihre Sprachkenntnisse versagten.
Mit Handtasche und Aktenkoffer bewaffnet, stieg sie zu außergewöhnlich früher Stunde die Stufen hinab. Bei der Haltestelle wartete sie.
Lauerte.
Betete.
Schickte einen flehenden Blick zum Himmel.
Bitte, lass Herrn Hadebrecht dasselbe Postauto nehmen wie ich!
In dem Moment, als das Gefährt um die Ecke bog, stürmte er mit wehendem Mantel auf sie zu, begrüßte sie hechelnd wie ein Jagdhund in der Wüste.
Gespannt wartete sie ab.
Würde er sich wieder ganz nach vorne begeben und sie buchstäblich sitzen lassen, wie beim letzten Mal? Nein, er steuerte die Stehplätze in der Mitte an.
Unaufgefordert folgte sie ihm. Sie hielt sich an der Stange fest und stellte ihre Aktenmappe zwischen ihre bestrumpften Beine in den schwarzen Lederpumps.
»Haben Sie sich gut eingelebt bei uns?«, frage er sie erneut. Dieser Mann war so liebenswürdig ritterlich, wenn nur sein Gedächtnis besser wäre!
Wie ein Schwamm das Wasser sog sie seine Worte auf. »Ja danke, ich fühle mich nur manchmal etwas eingekesselt in der winzigen Wohnung, umgeben von all den Badezimmern und Toiletten.« Das war eine starke Untertreibung. »Besonders die altertümlichen Spülungen beeinträchtigen meinen Schlaf!«
»Möchten Sie nicht lieber in eine größere Wohnung ziehen?«
»Ich warte damit noch zu, da ich Teilzeit arbeite und mein befristeter Vertrag erst zu Monatsbeginn in einen unbefristeten umgewandelt wurde.«
»Ach so. Übrigens bin ich kürzlich verreist.«
»Das habe ich auch festgestellt«, platzte es ihr heraus. Verlegen wich sie seinem Blick aus.
»Kann man das so gut hören, werden Sie dann nicht durch Geräusche aus meiner Wohnung gestört?« Seine hinreißende Stimme nahm einen bestürzten Ton an.
Sie schüttelte den Kopf. Sie konnte ihm doch nicht gestehen, sie sei beinahe süchtig danach. »Manchmal höre ich Sie summen, aber das stört mich überhaupt nicht. Ich bewundere Ihre gute Laune frühmorgens.«
Er wirkte überrascht. »Wie summen, so: la, la, la?«
Sie nickte. »Und so: hmmhhmmhh ... «
Sichtlich unangenehm berührt, behauptete er: »Aber ich summe doch nicht!«
Sprachlos schaute sie zu ihm hoch.
Wer, wenn nicht er, sollte der Mann sein, den sie so deutlich hörte, als befände er sich im selben Raum mit ihr? War es möglich, dass er es gar nicht merkte, oder genierte er sich, es zuzugeben?
»Ich höre Ihnen wirklich gern zu, empfinde bisweilen sogar eine neidische Regung, weil ich selbst morgens noch nicht so beschwingt bin. Aber sicher dringen auch Laute von mir zu Ihnen herüber?«
»Nein, aus Ihrer Wohnung höre ich nichts. Nur von den Nachbarn unter mir! Sonntagmorgens wird eine volkstümliche Sendung ausgestrahlt, die sie ziemlich laut aufdrehen. Zwar habe ich nichts gegen die Musik, aber es ist mir aufgefallen. Und ich vermute, jemandes Toilettenspülung auf meiner Hausseite sei defekt. Das kann ja kaum vom Duschen kommen, denn nach zehn Minuten würde das warme Wasser ausgehen!«
Sie krauste die Stirn. Sonntagmorgens hörte sie doch selbst ab und zu Volksmusik, in Erinnerung an die Wunschkonzerte aus ihrer Kindheit. Und meinte er etwa ihr eigenes Fitness-Ritual? Der morgendliche Wasserstrahl der Massagebrause auf ihre verspannten Muskeln half ihr, die Arbeitstage zu meistern.
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