Rastlos stromerte sie durch ihre Räume. Wie konnte sie locker mit Herrn Hadebrecht Kontakt aufnehmen? Seine E-Mail-Adresse auf der Visitenkarte fiel ihr ein. Wäre das eine Möglichkeit, sich zu melden? Sie verwarf den Gedanken wieder, da ihr nichts Plausibles einfiel, das sie ihm schreiben könnte.
Den vermeintlich rettenden Einfall hatte sie, als Andrin ihr Wochen später eine E-Mail-Anfrage zu einem internationalen Hotelprojekt übermittelte, mit dem Vermerk: »Bitte leite diesen Irrläufer gleich an die richtige Stelle in der Fachhochschule weiter.«
Sie tippte sich an die Stirn. Dass sie nicht eher draufgekommen war, ihm eine E-Mail zu schreiben!
Guten Tag Herr Hadebrecht! Soeben habe ich eine Anfrage an Ihren Berufskollegen übermittelt. Dabei ist mir bewusst geworden, dass ich nicht sehr höflich zu Ihnen gewesen bin. Sie haben mir Ihre Visitenkarte überlassen und ich habe Sie nicht informiert, wo und was ich selbst arbeite. Das möchte ich hier nachholen.
Der Zufall will es, dass Sie und ich in der gleichen Branche tätig sind. Ich arbeite im Sekretariat der Privatfachschule für Touristik, erledige administrative Sachbearbeitungsaufgaben und bin zuständig für die Belange der Schulkommission. Es ist eine interessante, anspruchsvolle und vielseitige Tätigkeit, die ich vor drei Monaten übernommen habe. Möchten Sie mir zu Ihrem Aufgabengebiet ebenfalls noch einige Angaben machen? Wer weiß, vielleicht muss ich eines Tages auch mit einem beruflichen Anliegen meiner Abteilung an Sie gelangen?
Stunden später meldete der Server ihr, der Empfänger habe die Nachricht gelesen. Zappelnd harrte sie der Zeilen, die da von ihm kommen sollten.
Komm schon, tipp ein paar Sätze für mich ein! Es war schon Donnerstagabend und sie hatte sich ausgerechnet den Freitag frei genommen. Enttäuscht räumte sie den Schreibtisch auf und schloss die Ordner in den Aktenschrank. Jetzt musste sie vier Tage auf seine Antwort warten, dabei war sie so gespannt darauf! Gut, dass sie morgen wegfuhr, das würde sie ablenken.
Kapitel 3 – Ein Hochzeitsfall
Leise Schnarchtöne wehten zu Marina hinüber, denn außer ihr saß nur noch ein alter Mann im Postauto, dessen Kopf haltlos über der Brust baumelte.
Durchs Oberfenster wehte das friedliche Geläut von Kuhglocken und begleitete sie auf dem Weg über den San Bernardino Pass ins südliche Tessin. Vor ihr breitete sich das grandiose Panorama der Bündner und Tessiner Alpen aus. Lichtreflexe tanzten über grüne Hügel und wiesen auf diese oder jene Sehenswürdigkeit hin.
Marinas Blicke glitten von den glitzernden Spitzen der Schneeberge über Tannenwälder und Bergwiesen und weiter talabwärts. Bis in den tiefen Schlund der Viamala-Schlucht, der sich seitlich vor ihr auftat und sie mitsamt dem Gefährt zu verschlingen drohte. Sie schauderte, als sie sich dort unten zerschellt liegen sah. Rasch wandte sie sich dem tiefblauen Horizont zu.
War das ein prachtvoller Tag zum Heiraten! Sie lehnte sich zurück und schloss die Lider. Am liebsten würde sie gleich an der nächsten Haltestelle aussteigen, einige Burgen und Schlösser besichtigen und im Schatten der Nadelbäume picknicken. Das blieb freilich Wunschdenken, denn an einem regnerischen Aprilabend hatte ihre Cousine Sophia sie angerufen:
»Am zweiten Freitag im Juli werden Remo und seine Marie-Jo endlich standesamtlich getraut. Wurde auch Zeit, die beiden wohnen lange genug zusammen. Aber was da auf Mike und mich zukommt, als Eltern des Bräutigams. Alle die Vorbereitungen und die Kosten!« In leicht verstimmtem Ton fuhr sie fort: »Obwohl die beiden darauf bestehen, im engsten Familienkreis zu feiern. Nur mit den Eltern, den Paten und Trauzeugen und natürlich Remos Schwester Felicitas.«
Sophias Stimme wurde lebhafter. »Aber Mike und ich spendieren nach der Trauung einen Umtrunk mit Häppchen für alle Gratulanten. Es werden nicht viele sein, weil Marie-Jos Familie von der Normandie stammt und kaum so weit reisen wird. Deine Brüder leben ja auch am Ende der Welt, aber du und deine Schwester Elena kommt zum Aperitif, oder?«
Ihre Brüder hatten vor Jahren ein lukratives Unternehmen in Osteuropa gegründet. Seither sah man sich alle Schaltjahre zu besonderen Anlässen.
»Stimmt, ich kenne Cornelius und Federico kaum noch, seit sie ausgewandert sind. Okay, ich bin dabei, und Elena vermutlich auch«, versprach Marina, als sie auch mal zu Wort kam.
»Gut, wir erwarten deinen Vater als Remos Pate und deine Mutter um halb zwei auf dem Zivilstandsamt. Du und Elena kommt dann gegen halb drei zum Aperitif in den Schlosspark«, schloss Sophia so bestimmt, dass Marina auf jeglichen Einwand verzichtete.
Nach der Berg- und Talfahrt im Postauto erreichte Marina leicht durchgeschüttelt den Zielbahnhof im Tessin, wo Ihre Eltern ihr vom Auto aus zuwinkten.
»Hallo, Mama, Papa, danke fürs Warten. Elena kommt später im eigenen Wagen, aber das wisst ihr sicher schon.« Sie hatte mit ihrer Schwester vereinbart, dass sie sich vor dem Standesamt treffen würden.
Nach einer liebevollen Begrüßung sank sie auf den Rücksitz des Personenwagens. Während sie zum Hotel fuhren, wo später die Hochzeitsfeier stattfinden würde, traf sich Ihr Blick im Rückspiegel mit dem ihres Vaters.
»Ist das eine gute Idee, dem Brautpaar persönlich zu gratulieren, obwohl ihr nicht eingeladen worden seid?«, fragte er im besorgten Tonfall.
»Ach Papa, heutzutage feiert man nicht mehr so konventionell. Ihr beide gehört zum erlauchten Kreis der Geladenen. Aber ich verstehe es, wenn Remo sich lieber eine tolle Hochzeitsreise leistet, als alle Onkels und Tanten und Cousins zu verköstigen. Ich habe die Fahrt genossen und freue mich, euch wiederzusehen.«
Sie parkten vor einem luxuriösen Hotel, vor dessen Eingang sich eine Traube elegant gekleideter Personen versammelt hatte. Die Damen trugen auffallende Hüte auf sorgfältig frisiertem Haar.
Marina beugte sich vor und sah neugierig hinüber. »Très chic! Vielleicht ist Marie-Jos Familie doch aus Frankreichs Norden angereist?«
»Schon möglich, Liebes, wir werden sehen. Lass uns erst das Hotelzimmer beziehen, damit Papa und ich uns frisch machen können«, meinte ihre Mutter lächelnd.
Nachdem sie sich eingetragen hatten, geleitete einer der Rezeptionsangestellten sie in die obere Etage.
Gegenüber richteten sich die Trauzeugen ein, ihre Cousine Brigitta und deren Gatte Daniel. Zwischen Kleiderschrank, Badezimmer und Gepäck kreisend, schaute Brigitta gehetzt auf, als sie Marina erkannte. »Ah, du bist auch hier. Könntest du mal nachfragen, wo Remos Eltern bleiben? Wir sollten bald losfahren, wenn wir rechtzeitig zur Trauung kommen wollen.«
«Ja, klar.« Marina hastete hinunter und wandte sich an den Kellner. Dieser wies sie in einen Raum mit rund zwanzig festlich gedeckten Tischen. Mit offenem Mund blieb sie im Eingang stehen.
Das nannte Sophia engster Familienkreis? Wie ein gefangener Vogel flatterte sie durch den Saal. In ein meergrünes knöchellanges Kleid gehüllt, das von einem silbern schimmernden Überkleid mit passender Stola ergänzt wurde, vermutete man eher die Schwester der Braut als deren Schwiegermutter. Ihr Gemahl Mike strahlte mit den Kristallgläsern um die Wette.
Marina atmete durch, bevor sie rief: »Hallo, man vermisst euch bereits, braucht ihr noch Hilfe?«
Sophias Miene hellte sich augenblicklich auf. Mit ausgebreiteten Armen stöckelte sie auf sie zu und drückte sie herzlich. »Marina! Wie schön, dass du frei nehmen konntest.« Sie spähte umher. »Bist du alleine?«
»Mama und Papa sind oben und ich treffe Elena später vor dem Rathaus. Aber was tut ihr denn noch hier? Die andern sind schon in Sorge.«
Die beiden verteilten mit Vornamen beschriftete Röllchen an jeden Sitzplatz.
»Ich helfe euch hier. Brigitta hat nach euch gefragt, weil sie gleich abfahren wollen. Wo habt ihr meine Lieblingsnichte versteckt?« Marina sah sich nach Remos jüngerer Schwester um.
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