»Ah, Herr Hadebrecht. Guten Tag! Sie kommen im richtigen Moment, um mich beim wöchentlichen Kehr zu unterstützen.« Der Gedanke, wie sie in ihrer Putzmontur aussehen musste, zauberte Farbe auf ihre Wangen. Sie pustete eine vorwitzige Haarsträhne aus ihrem Mundwinkel. Verstohlen strich sie über ihre Schürze, bevor sie ihre Fingerspitzen in seine Rechte legte.
Ein meergrünes Funkeln leuchtete in seinen Augen auf, als er den Kopf schüttelte. »Ich fürchte, ich kann ihnen da wenig helfen.«
Ein paar launige Worte flogen hin und her, bis er sich freundlich von ihr verabschiedete.
Sie wischte weiter. Der Mann hatte Augen! Dieses intensive, klare Grün. Wieso hatte sie die Gelegenheit nicht genutzt, ihm ein paar lebenswichtige Infos zu entlocken? Wenigstens hätte sie ihn fragen können, wie seine Ferien verlaufen seien – oder so.
Als sie anschließend im Gemeinschaftswaschraum ihre erste Wäsche waschen wollte, mühte sie sich mit der Technik der bejahrten Maschine ab. Wie setzte man dieses Ding in Gang? Entnervt suchte sie nach dem Hauptschalter. Himmel, ich bin doch nicht blind! Sie läutete im Erdgeschoß bei der Verwaltung. Als niemand öffnete, stieg sie die gefühlten zweihundert Stufen hoch und klingelte bei Herrn Hadebrecht. Leise Musik drang an ihr Ohr.
»Frau D’Amato, sorry, ich habe gerade eine Disc eingeworfen. Was kann ich für Sie tun?«
Sie rang nach Atem. »Bitte entschuldigen Sie, aber ich bin etwas in Verlegenheit.«
Ohne zu zögern, begleitete er sie in die Waschküche und zeigte auf die rechte Seite der Maschine.
Mist, wie hatte sie diesen Knopf übersehen können? »Oh, vielen Dank. Dann kann ich ja loslegen.«
Er schenkte ihr ein charmantes Lächeln und ein Neigen seines Kopfes, bevor er sich entfernte.
Oben angekommen, durchsuchte Marina ihre CD-Sammlung nach einem bestimmten Musiktitel, denn sie brauchte jetzt Carmen .
Als sie und ihre drei jüngeren Geschwister noch kleine Knirpse waren, sangen ihre Eltern öfter mit ihnen und sie hörten sich jede Woche das Wunschkonzert im Rundfunk an. Ihr Papa schnappte sich die kleine Marina hin und wieder, um zu den Walzerklängen mit ihr zu schunkeln oder im flotten Polkatakt durch sämtliche Räume der Wohnung zu schwofen. Danach kam ihre jüngere Schwester Elena an die Reihe. Ungeduldig reckte sie die Ärmchen nach dem Vater. »Ena auch tanzen«, rief sie und krähte vergnügt, wenn er sie hochhob. Selbst ihre beiden älteren Brüder wollten mitmachen und bettelten solange, bis auch die Mama sich lachend mit ihnen im Kreis drehte.
Einen Teil dieses bezaubernden Rituals hatte Marina ins Erwachsenenleben hinübergerettet, indem sie an regnerischen Sonntagen zuweilen Volkslieder aus ihren Kindertagen auflegte und mitsang. Später, mit achtzehn, sah sie zum ersten Mal eine Opernaufführung.
Carmen . Vom ersten Takt an ergriff sie jenes Fieber, das sie nie wieder loslassen sollte, wenn sie diese Musik hörte. Beim Zigeunerlied im zweiten Akt wirbelte sie im Rhythmus der Bohemiens durchs Zimmer, bedauerte nur, keine Kastagnetten zu besitzen, um selbst damit zu klappern. Arme und Hüften wiegten sich wie von selbst dazu, während ihre Füße auf den Boden trommelten.
Die leidenschaftliche Musik, die Verführungskunst und Verführbarkeit der Akteure faszinierten die junge Marina ebenso wie die Geschichte der zum Scheitern verurteilten Liebe zwischen den beiden gegensätzlichen Charakteren: Carmen , der ungestümen, freiheitsliebenden Zigeunerin und dem dienstbeflissenen, zwischen der Leidenschaft und militärischen Pflichten hin und hergerissenen spanischen Leutnant Don José .
Genau danach verlangte es Marina jetzt. Sie zog das Album aus dem Regal und legte die erste Disc ein. Dann schlüpfte sie in einen weit schwingenden Rock und flatterte durch die Räume. Wohl zum ersten Mal in all den Jahren schweiften ihre Gedanken dabei von der berauschenden Musik ab.
Wie lebte Herr Hadebrecht? Nichts wies darauf hin, ob ihr geheimnisvoller Nachbar Junggeselle war oder von seiner Familie getrennt lebte. Sie hatte bisher auch keine weibliche Stimme aus seinen Räumen gehört. Innerhalb derselben schien sein Leben ebenso keimfrei zu sein wie das ihre. Nur einmal vernahm sie, wie er in männlicher Begleitung die Wohnung betrat. Die Herren unterhielten sich bis in die Nacht hinein, bevor die Besucher sich wortreich von ihrem Gastgeber verabschiedeten.
Mitte Juni verfolgte Marina am Bildschirm die Eröffnung der EURO 2008 in der Landeshauptstadt Bern.
Im Gegensatz zu ihr war Barbara ein leidenschaftlicher Fußballfan. Die Freundin reiste mit ihrer Clique oft durch die halbe Schweiz, um die Austragungen live zu erleben. »Ich muss unbedingt meine Favoriten selbst anfeuern, sonst wird das nichts! Komm doch mit, dann siehst du unsere sexy Mannschaft mal aus der Nähe«, rief Barbara in den Hörer.
»Du weißt, dass weder Fußball noch die brüllenden, grölenden und Unmengen von Bier verschlingenden Fanhorden was für mich sind. Am Bildschirm ist es viel bequemer und ich sehe erst noch mehr Details. Vor allem kann ich jederzeit ausschalten. Aber dir wünsche ich natürlich viel Spaß«, lachte Marina und hängte auf. Was sollte sie ausgerechnet mit Fußball, dieser Sportart konnte sie nichts abgewinnen. Sie schüttelte sich beim bloßen Gedanken daran.
Aber vielleicht wäre Barbara nach der EURO wieder mal bereit, mit ihr auszugehen. Früher gingen sie öfter zusammen tanzen, aber seit Marina von der Zentral- in die Ostschweiz gezogen war, sahen sie sich kaum mehr.
Das erste Spiel der EURO 2008 trug Italien gegen die Niederlande aus. Mit offenem Mund starrte Marina am ersten Austragungsabend in der Tagesschau auf das orangefarbene, grelle Meer von zigtausenden niederländischen Fußballfans, die über die Schweiz herfielen: Wow, das war ja ein lustiges Völkchen!
Ihre Kinder auf den Schultern, mit originellen Kopfbedeckungen und witzigem Zubehör ausgestattet, feierten sie den ersten Oranje -Sieg, noch bevor sie ihn in der Tasche hatten. Den in Würde ergrauten Steindenkmälern in der Berner Altstadt stülpten sie orangefarbene Leibchen über, setzten ihnen ihre Mützen auf und umarmten die leblosen Figuren wie liebe alte Bekannte. Selbst das klare Schweizer Quellwasser in den kunstvoll gestalteten Brunnen färbten sie in ihrer Lieblingsfarbe ein. Überall herrschte Oranje Siegesgewissheit und eine johlende Lebensfreude, die sich auf Marina abfärbte, ob sie wollte oder nicht. Ein Funke dieses erfrischenden Übermuts sprang sofort auf sie über.
Ein junger Mann strahlte keck in die Fernsehkamera. »Ja, fröhliche Leute hier, heiß und gut’s Bier. Wenn wir gewinnen, dann ist ganz Bern nicht sicher mehr!«
Und was Marina niemals erwartet hätte: Sie hockte wie angenagelt auf dem Sofa, bis das Spiel beendet war. Erst danach realisierte sie, dass sie die ganze Spielzeit durchgehalten hatte wie ein hypnotisiertes Kaninchen, mit hochgezogenen Schultern und flachem Atem. Kopfschüttelnd schaltete sie den Apparat aus. Sie hatte sich ursprünglich eine romantische Komödie zu Gemüte führen wollen, und nun das!
Von nebenan trällerte es aufreizend zu ihr herüber.
Sicher hatte Herr Hadebrecht das Spiel verfolgt und würde mit ihr übereinstimmen: Großanlässe wie die EURO 2008 waren ein Segen für den Tourismus. So mancher, der nur der Austragungen wegen in die Schweiz gereist war, würde im Urlaub wiederkommen. Darüber sollten ihr Nachbar und sie sich gelegentlich unterhalten, aber wie stellte sie es an, um mit dem charmanten Herrn ins Gespräch zu kommen? Eine knifflige Angelegenheit, wenn man ihn kaum je sah.
Spätnachts tastete Marina im Halbschlaf nach ihrem ausdauernd klingelnden Handy. Wehe dem Verrückten, der es wagte, sie jetzt noch anzurufen.
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