Ferner enthielt ihre CD-Sammlung Oldies und Chansons, Popmusik, Evergreens und Country Songs. Oder Walzer. Walzer waren ihre Favoriten, dazu konnte man herrlich schunkeln, auch allein zuhause. Dafür hielt sie sich stets die Mitte ihres Wohnraums frei.
»Du hast ja einen Ballsaal hier«, hatte ihre Freundin Barbara vor Jahren ausgerufen, als sie das erste Mal bei ihr zu Besuch war.
»Hm, ich brauche Bewegungsfreiheit zum Tanzen«, hatte Marina lachend erwidert.
Inzwischen hatte Barbara sich längst daran gewöhnt, dass Marinas Möbel und Gegenstände den Wänden entlang aufgereiht waren. Aber hier erwies es sich als sinnvoller denn je. Sobald sie eine hübsche, bezahlbare Wohnung fand würde sie ausziehen. Sie schwang sich aus dem Bett und schlüpfte in ihre Pantoffeln.
Beim Frühstück lauschte sie der betörenden Männerstimme, die seit einer Stunde ohne Unterbrechung trällerte. Der Typ musste frisch verliebt sein, oder hatte ein köstliches Erlebnis hinter sich. Ob er noch solo war? Sie konnte es kaum erwarten, ihn kennenzulernen. Bis zum Mittag verwandelte sich ihre Begeisterung allerdings in eine Mischung aus Wut und Resignation. Mit seinem hinreißenden Bariton und einem unerschöpflichen Repertoire an Tönen, die vorwiegend aus seiner innersten Quelle zu stammen schienen, hatte der Unbekannte das gesamte Miethaus vereinnahmt.
Am Montagmorgen weckte erneut melodischer Gesang ganz in der Nähe sie auf. Verwirrt schüttelte sie den Kopf. War es etwa doch ihr asthmatischer Nachbar zur Rechten, der soeben Ehre sei Gott in der Höhe anstimmte? Hatte dieser Kerl denn zwei Seelen in der Brust?
Sie bezwang ihren Impuls, herzhaft mitzusingen. Was würde Herr Unbekannt sich denken, wenn auf einmal ihr Echo in sein Badezimmer hallte?
Sie duschte, löffelte im Stehen ihr Müsli, während sie in ein marineblaues Kostüm und ein blauweiß gemustertes Seidentop schlüpfte. Bei sorgfältiger Pflege würden ihre zeitlos klassischen Kombinationen aus edlen Materialien, die sie während ihrer Ehe erworben hatte, noch einige Jahre der Entbehrungen überstehen. Nach dem Zähneputzen zog sie die Lippen in zartem Mauve nach, legte passendes Rouge auf und tönte ihre Wimpern dunkelblau. Sie legte sich die Perlenkette um und steckte Ohrhänger an, dann griff sie nach der weißblauen Handtasche und eilte in eleganten Lederpumps aufs Postauto Richtung Alpenstadt, wo sie seit Beginn dieses Monats arbeitete.
Kapitel 2 – Erste Symptome
Einmal mehr hatte ein verführerisches Summen Marinas Sinne aufgewühlt, einmal mehr viel zu früh für sie. Sie hatte keine sieben Stunden geschlafen, dabei sollte sie morgen fit sein für ihren Teilzeitjob als Sekretärin an der privaten Fachschule für Touristik. Nach ihrer langen Berufspause stellte dieser für sie eine Herausforderung dar, trotz der Informatikkurse.
Marina wollte sich und ihrem Vorgesetzten Andrin beweisen, dass sie ihren anspruchsvollen Aufgaben gerecht wurde, obwohl sie nie angemessen eingearbeitet worden war. Sie fand im Büro weder Anleitungen noch Checklisten vor, die ihr die Tätigkeit erleichtert hätten. Einige Instruktionen und Hinweise hier, eine Anregung dort und die wenig aussagekräftigen Aktendossiers mussten genügen.
Seufzend lauschte sie nun den maskulinen Lauten, beschloss, cool zu bleiben und dafür am Abend früher zu Bett zu gehen. Ein Lächeln umspielte ihre Mundwinkel, denn in der Regel blieb es bei der Absicht. Sie schaffte es einfach nicht, mit den Hühnern schlafen zu gehen und mit dem Gockel aufzustehen.
Inzwischen war sie sich ziemlich sicher, dass der sich räuspernde alte Mann nebenan und der unermüdliche Sänger ein und dieselbe Person sein mussten. D er Typ hat wohl sämtliche Töne für sich gepachtet , dachte sie in einem Anflug von Spott.
Er selbst blieb nach wie vor unsichtbar für sie, was ihr merkwürdig vorkam. Denn kurz nachdem sie ihr Mini-Appartement am Rande der Bündner Alpenstadt bezogen hatte, klebte sie einen Notizzettel an die nächstgelegene Wohnungstür:
Lieber Nachbar, liebe Nachbarin, vor wenigen Tagen bin ich in die Wohnung neben Ihnen eingezogen. Leider habe ich heute Abend bemerkt, dass an meinem Briefkasten ein Kleber mit Stopp keine Werbung angebracht ist. Deshalb vermisse ich jetzt den Wochenanzeiger. Haben Sie diesen erhalten? Wenn ja, darf ich ihn nachlesen, wenn Sie ihn nicht mehr benötigen? Das wäre sehr nett, vielen Dank im Voraus. Marina D’Amato
PS: auf gute Nachbarschaft, auch ohne Anzeiger!
Am folgenden Morgen haftete derselbe Zettel an ihrer Tür. Verblüfft löste sie ihn ab und las auf der Rückseite:
3. April 2008 um 23.45 Uhr
Sehr geehrte Frau D’Amato, auch ich habe an meinem
Briefkasten das Schild, dass ich keine Werbung wünsche.
Die Bündner Woche wird trotzdem verteilt, mittwochs .
Mit freundlichen Grüßen
Archibald Hadebrecht
Archibald Hadebrecht! Sie schnitt eine Grimasse. Der Mann war ja lebenslang gestraft mit dem altbackenen Namen, kein Wunder, drückte er sich so gestelzt aus. Den Ausgabetag des Wochenblatts hatte er so exakt doppelt unterstrichen, als zweifle er ihre Fähigkeit an, sich diesen zu merken. Herrje, was bitte sollten die förmliche Anrede, Datum und Uhrzeit auf einer Notiz?
Daneben klebte die Visitenkarte einer anerkannten Fachhochschule für Tourismus in der Stadt, wo sich auch die Touristikfachschule befand, in welcher Marina ihre neue Stelle angetreten hatte. So ein Zufall! Waren sie sich schon mal begegnet, ohne zu ahnen, dass sie nächste Nachbarn waren? Was stand da noch?
Dr. oec. Archibald Hadebrecht
Dozent und wissenschaftlicher
Mitarbeiter für Tourismusprojekte
Darunter waren sämtliche Koordinaten aufgeführt, mit Ausnahme seiner Privatadresse, die sie sowieso kannte. Fehlte nur noch das Geburtsdatum.
Marina verzog den Mund. Ihr Nachbar musste steinalt sein, sein Benehmen erinnerte an Zeiten, als Herren den Damen ihre Reverenz erwiesen. War es nur eine höfliche Geste von ihm, oder wollte er ihr seinen beruflichen Status unter die Nase reiben: Das bin ich – und was bist du?
Spontan wählte sie eine blütenweiße Karte, die sie mit einem Vermerk in makelloser Handschrift an seine Tür klebte:
Guten Tag Herr Hadebrecht. Vielen Dank für Ihre
freundliche Auskunft. Heute hatte ich den Anzeiger
im Briefkasten, ich war wohl etwas zu ungeduldig.
Freundliche Grüße, Marina D’Amato
Das genügte im Privatbereich, gleich morgen würde sie Andrin klarmachen, dass sie dringend Visitenkarten brauchte.
In der Nacht erwachte sie durch lautes Gepolter von nebenan. Sie fuhr hoch, tastete schlaftrunken nach dem Wecker und rieb sich die Augen. »Was, halb drei?«, ächzte sie.
War der Herr Dozent etwa so spät heimgekommen? Nein, offenkundig war er aufgestanden und rumorte eine gute Stunde lautstark in seinen Räumen. Danach hörte sie eine Woche lang nichts mehr von ihm, wie sie zufrieden registrierte. Die Ruhe im Haus war geradezu himmlisch. Endlich konnte sie durchschlafen, ohne von ständigem Räuspern und Lärmen geweckt zu werden.
Okay, sein beschwingtes Trällern fehlte ihr ab und zu ...
An ihrem nächsten freien Tag, Marina war gerade dabei, nach einer Aufräum- und Staubsaugaktion die Böden zu wischen, läutete es bei ihr. Als sie verwundert öffnete, stand ein imposanter Herr mittleren Alters mit rötlichblonder Igelfrisur im Türrahmen.
»Archibald Hadebrecht. Sie und ich hatten bereits schriftlichen Kontakt. Inzwischen bin ich von einer Woche Urlaub wieder zurück und wollte mich noch persönlich bei Ihnen vorstellen.« Er deutete eine Verbeugung an und streckte ihr mit einem verbindlichen Lächeln seine Hand hin.
Was, das war der alte Mann von nebenan? Marina riss die Augen auf, machte Licht und musterte den attraktiven Hünen im dunklen Anzug genauer.
Читать дальше