»Felicitas ist mit Remo und Marie-Jo losgefahren.«
Eine halbe Stunde später stand Marina mit über hundert Gästen hinter dem Rathaus in der sengenden Sonne, weil das Zivilstandsamt neben dem Brautpaar nur Platz für die Eltern, Paten und Trauzeugen bot.
Vom Parkplatz her eilte Elena in einem luftigen Sommerkleid auf Marina zu und hängte sich bei ihr ein. »Hallo, ich habe dort hinten geparkt, weil alles besetzt war!« Sie sah sich um. »Sind sie noch drinnen?«
»Ja, wird wohl nicht lange dauern.« Marinas Blick wies auf die im Hof versammelten Leute. »Siehst du diesen Auflauf? Wir sind offenbar nicht die Einzigen, die das Brautpaar überraschen wollen.«
»Was, die gehören alle zu Remo und Marie-Jo?« Überrascht begrüßte Elena ihre Familienmitglieder. Mit gerunzelter Stirn nickte sie danach zu den vornehmen Gästen hinüber. »Sind das Bekannte der Braut?«
»Vermutlich.«
Brennend heiß flimmerte die Nachmittagssonne auf sie nieder. Mit ihren Einladungskarten fächelten sich die Damen unter den Hüten diskret Luft zu, während die Herren sich mit blütenweißen Taschentüchern den Schweiß von der Stirn tupften.
»Sieht aus wie Statisten in einem Stummfilm, die auf Regieanweisungen warten«, flüsterte Marina.
»Da ist was dran!«, kicherte ihre Schwester.
Gefühlte fünf Stunden später entließ der Trauungsbeamte das junge Paar. Keiner hätte vermutet, dass die in zartblauen Tüll gekleidete Braut mit dem glatten Teint und den hochgesteckten blonden Locken fast zwanzig Jahre älter war als ihr Gatte. Mädchenhaft scheu nahm Marie-Jo die Glückwünsche entgegen.
Irgendwann hauchten auch Marina und Elena Küsse auf die rosigen Wangen der frisch Vermählten: »Ganz herzlichen Glückwunsch. Und alles Gute auf eurem gemeinsamen Lebensweg.«
Marie-Jos verwundertes, aber bezauberndes Lächeln belohnte sie, ihre Stimme bebte leicht: »Merci bien, mes chères. Wie schön, dass ihr extra hergekommen seid.« Gleich darauf fuhren sie und Remo in der Hochzeitslimousine davon, denn die Verzögerung hatte das Programm durcheinander gewirbelt.
Die Gästeschar stob auseinander wie die wilden Hühner, um die Vorausfahrenden nicht aus den Augen zu verlieren. Immerhin warteten im Schlossgarten die Appetithäppchen, der Sekt – und der bestellte Fotograf.
Elena stupste sie. »Komm, wir müssen uns beeilen!«
Sie hasteten Richtung Parkplatz. Bis sie eingestiegen waren, hatte sich die ganze Gesellschaft verflüchtigt wie eine Luftspiegelung im flirrenden Wüstensand.
»Hey, die sind uns einfach davongefahren. Wie kommen wir nun da hoch? Wohl einfach der Nase nach.« Lachend steuerte Elena auf die Burganlage zu, die vor ihnen aufragte, und parkte bald darauf unterhalb der Festungsmauern. Mit den Geschenken auf dem Arm, stelzten sie die steile Gasse zur Pforte hoch.
»Wussten Remo und Marie-Jo überhaupt, dass wir zum Umtrunk eingeladen sind?«, brummte Elena.
Der Himmel schien sie auszulachen, denn er heizte ihnen gehörig ein. Marina zog ihr Bolerojäckchen aus und legte es sich über den Arm.
»Jetzt wünschte ich mir bequemere Schuhe. Dass die nicht mal auf uns gewartet haben! Das ist ja die reinste Stresshochzeit«, keuchte sie.
Unterwegs strebten weitere Spaziergänger zur Burg.
»Sind das auch Hochzeitsgäste?«, japste Elena.
»Keine Ahnung, ich kenne sie nicht!«
Im Eingang zum Hof sahen sie sich suchend um. Weiße Leinentücher bedeckten ellenlange Tischreihen zwischen grob gezimmerten Tannenholzbänken.
Frauen in der Tracht der Bediensteten von anno dazumal bewirteten die anwesende Gesellschaft. Einige schleppten irdene Krüge und antike Töpfe, andere räumten Blechgeschirr und Zinnbecher fort.
»Originelle Idee. Erkennst du jemanden?« Marina drehte den Kopf in alle Richtungen. »Ich glaube, unsere Familie hat sich schon wieder in Luft aufgelöst!«
Sie wandte sich an die nächste Kellnerin: »Bitte, wo befindet sich die Hochzeitsgesellschaft, die hier einen Umtrunk einnimmt?«
Die Frau musterte sie von oben bis unten, bevor sie den Kopf schüttelte. »Also, wir erwarten heute keine Hochzeitsleute. Das ist eine Klassenzusammenkunft!«
»Sind Sie sicher?« Erschrocken starrte Marina ihre Schwester an. »Was nun? Wo könnten die sein?«
Elena stieß einen zischenden Laut aus. »Jetzt reicht's mir aber!« Sie zerrte das Handy aus der Handtasche und tigerte über die Pflastersteine. »Hey Sophia, wo seid ihr eigentlich?«, knurrte sie gereizt in das schuldlose Gerät.
Marina heftete sich lauschend an ihre Fersen.
»Ach nein, ihr vermisst uns? Kein Wunder!«
Stille. Elena schüttelte den Kopf, ihre Stimme nahm einen ratlosen Ton an. »Ja, aber wo habt ihr euch bloß versteckt? Es hieß doch ...«
»Was? Das falsche Schloss?«, kreischte sie plötzlich. Zwei rote Flecken erschienen auf ihren Wangen, als sie hörbar die Luft einzog und nun losbrüllte, dass die Klassenzusammenkunft die Hälse reckte: »Wie hätten wir das wissen sollen? Ihr seid ja alle davongerast, als sei der Leibhaftige hinter euch her«, tobte sie. »Also, wo sollen wir hinfahren? ... Aha, und wo liegt das?«
»Lass mich mal ran, ja«, schaltete Marina sich ein.
Etwas gedämpfter informierte Elena sie. »Sophia sagt, wir seien auf der falschen Burg. Sie besteht darauf, dass wir nachkommen.«
»Bah, keine Lust mehr! Lass uns dableiben und diese tolle Anlage besichtigen, statt uns weiter zu stressen.« Bis sie endlich am richtigen Ort angelangt wären, würde der viel gepriesene Umtrunk sowieso vorbei sein. »Sieh dir doch mal die grandiose Aussicht an, die wir hier oben haben!« Marina wies mit dem Kinn auf die Brüstung.
Elena legte die Hand aufs Handy und wisperte:
»Es ist ein Missverständnis. Wenn wir nicht fahren, ist Sophia gekränkt!«
»Na gut, aber hier wär's grad so schön und einen gemütlichen Schattenplatz hätten wir auch«, maulte sie.
Als sie im richtigen Schloss ankamen, posierten Remo und Marie-Jo auf einer Aussichtsplattform im Park für den Fotografen. Das Paar wirkte höchst beschäftigt und vergeudete keinen Blick an die beiden Nachzügler.
Ratlos blickten die Schwestern sich um. Wo hatte die restliche Gesellschaft sich wieder versteckt?
Da eilte Sophia aus einem Seitenweg auf sie zu und schleuste sie durch die Rosenranken. »Endlich! Es war doch immer die Rede von Schloss X, wie seid ihr bloß auf das Burgrestaurant gekommen? Marina, du hättest wissen sollen, wohin wir gehen, schließlich haben wir am Telefon darüber gesprochen!« Sophias graublaue Augen blitzten vorwurfsvoll in ihre Richtung.
Marina zog die Schultern hoch und breitete hilflos die Arme aus. »Äh - haben wir das?«
Mit gekrauster Stirn deutete Elena auf die Menge vor ihnen. »Was sind das alles für Leute Sophia? Mir hat Marina gesagt, nach dem Aperitif fände die Feier im engsten Familienkreis statt.«
Auf Sophias Wangen erschienen zwei rote Flecken. »Ich weiß, Remo hat es sich anders überlegt, um Marie-Jos Familie nicht zu verärgern. Sie geben nun doch einen Empfang heute Abend.«
Elenas Antlitz nahm einen grünlichen Ton an. »Was? Aber ich habe keine Einladung erhalten. Es hieß, wir sollen nur zum Umtrunk kommen. Ich habe den Kindern versprochen, dass wir noch einen Märchenfilm gucken, wenn sie brav sind!« Bemüht, die aufsteigenden Tränen zu verbergen, wandte sie sich ab.
»Eben, ihr seid für den Nachmittag eingeladen, und die übrigen Gäste nehmen an der Hochzeitsfeier teil. Ich wollte euch halt dabei haben«, druckste Sophia.
In diesem Moment löste Remos jüngere Schwester Felicitas sich aus der Gästeschar und kam lächelnd auf sie zu. Bei Elenas Anblick stockte sie und rief:
»He, du siehst aber gar nicht glücklich aus!«
Dies war Elenas Stichwort. Einem Dammbruch gleich stürzten die Tränen über ihre Wangen. Heftig schluchzend flüchtete sie zu den blühenden Sträuchern, wo sie binnen kurzem von Familienmitgliedern umringt und wortreich getröstet wurde.
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