Das Sandmännchen gähnte. „So, ich werde dann mal schlafen gehen. Du weißt ja jetzt, wo du hin musst.“
„Warte!“, rief Amelie erschrocken. „Lass mich doch nicht alleine! Wie soll ich dorthin gelangen und - wie komme ich wieder nach Hause?“
Das Sandmännchen nickte. „Ach, ich vergesse immer, es zu sagen. Wenn du nach Hause willst, gehst du einfach auf die Traumwiese zurück und wünschst dich in dein Bettchen. Das klappt immer. Sieh zu, dass du vor Ablauf einer Woche zurück bist. Hab nur keine Angst, in der Traumwelt kann dir nichts passieren...“ Mit diesen Worten verschwand das Sandmännchen direkt vor Amelies Augen. Ganz allein stand das kleine Mädchen in seinem rosa Nachthemdchen nun auf der Traumwiese, über der langsam die ersten Sterne aufgingen. Ganz unbemerkt war es dunkel geworden. Amelie fühlte sich einsam. Was sollte sie tun? „Wenn ich mich jetzt nach Hause wünsche, könnte ich sofort wieder in meinem Bett liegen. Aber dann wäre dieses wunderbare Abenteuer vorbei und wer weiß, ob ich noch einmal hierher komme.“ Amelie sah sich um. Die milde Nachtluft war voller Blütenduft. Seltsame Geräusche drangen aus dem Märchenwald zu ihr herüber. Ach ja, dort machten sie ein Picknick. Vielleicht auch ein Lagerfeuer. Ob sie dort hingehen könnte? Es wäre doch schön, mal die ganzen Märchenfiguren ganz echt und hautnah zu sehen. Aber ob ein Menschenkind dort auch willkommen wäre? Schließlich hatten sie noch nicht einmal den Sandmann eingeladen. Amelies Blicke schweiften hinüber zum Weihnachtshimmel. „Dort ist es sicherlich auch interessant“, dachte sie bei sich. Schon oft hatte ihr die Mutti Geschichten erzählt, wie die Englein das Weihnachtsfest vorbereiteten und die Geschenke herstellten. Aber nach Weihnachten war es Amelie eigentlich nicht zumute, jetzt, im August. Zur Frau Holle zu gehen und die Betten aufzuschütteln hatte sie auch keine Lust. Am Ende übergoss man sie noch mit Gold oder gar mit Pech – wie würde sie dann in der Schule ausgelacht werden! Also blieb ihr nur der Weg ins Schlaraffenland. Dort hatte sie ja schließlich auch von Anfang an hingewollt. Jetzt, im Dunkeln, leuchtete das Schloss in der Ferne, als wäre es aus Milchglas und von innen beleuchtet. Außerdem schien es viel näher zu sein als vorhin. Als Amelie zögernd den ersten Schritt darauf zu machte, schwirrten plötzlich hunderte Glühwürmchen um sie herum. Was wollten sie? Ihr den Weg zeigen? 
„Ich will zum Schlaraffenland!“, sagte Amelie laut. Und tatsächlich, die Glühwürmchen schwebten als große, helle Wolke vor dem Mädchen her und beleuchteten einen Pfad, der durch das dichte Blumenmeer direkt auf das geheimnisvolle Schloss zuführte. Und Amelie schritt voller Vorfreude aufs Schlaraffenland zu.
Es dauerte gar nicht lange, da tauchten am Wegesrand kleine Häuser auf. Zäune umschlossen Hühnerhöfe und Blumengärten, der Pfad wurde zu einem gepflasterten Weg. Alles, die Häuser, die Gärten, die Brunnen und die Handwagen, wirkten so klein und zierlich, als wäre es extra für Kinder gemacht. An einem Haus, hinter dessen Fensterscheiben noch Licht war, blieb Amelie stehen, nahm ihren ganzen Mut zusammen und klopfte. Die Tür öffnete sich knarrend und vor Amelie stand eine alte Frau, gerade so groß wie sie selbst, und schaute ihren Besucher freundlich an.
„Oh, ein Gast aus der Menschenwelt! Tritt doch näher, mein Kind!“ mit diesen Worten öffnete sie die Tür weit und ließ Amelie eintreten. Die sah sich neugierig um. Wie in einer Puppenstube sah es hier aus! Auf dem Tischchen stand eine Kerze und verbreitete mattes Licht. Der kleine Sessel am Kamin war mit einem gehäkelten Tuch bedeckt. 
„So setz dich doch, Mädchen!“, sagte die alte Frau freundlich. Sie trug ein langes Kleid, ein grünes Wolltuch um die Schultern und eine schneeweiße Schürze. Auf dem Haupte saß ihr ein besticktes rosa Häubchen. Es schien ihr nicht das Geringste auszumachen, dass ihre Besucherin im Nachthemd vor ihr stand. Als Amelie sich gesetzt hatte, vollführte die Frau mit den Händen seltsame Bewegungen über der Tischplatte, als wolle sie Fliegen verscheuchen. Wie aus dem Nichts tauchten plötzlich Schüsseln und Näpfe auf, die sich rasch füllten: Mit Plätzchen und Schokolade, mit Eis und Pudding. Mitten auf dem Tisch stand eine große Sahnetorte.
„Greif doch zu!“, sagte die Frau aufmunternd.
Amelie, die ihren Augen nicht traute, berührte vorsichtig mit dem Zeigefinger die Torte. Es blieb Sahne am Finger kleben, die Torte war echt! Die Schokoladenplätzchen waren es auch, wie sie schnell feststellte, und alles schmeckte einfach köstlich! Aus einem Krug schenkte ihr die Hausherrin Apfelmost in einen Becher, dann setzte sie sich zu ihr und schaute ihr lächelnd beim Essen zu.
„Nun, wer bist du und was führt dich zu uns?“, fragte sie nach einer Weile.
Das Mädchen schluckte schnell einen Bissen hinunter und antwortete höflich: „Ich heiße Amelie, bin sieben Jahre alt und möchte das Schlaraffenland finden!“
Die Alte lachte glockenhell. „Nun, du hast es gefunden! Ich heiße Caramella und bin siebenhundertachtundsechzig Jahre alt.“
„Aber ... aber so alt kann man doch gar nicht werden!“, rief Amelie erstaunt.
„Oh doch, bei uns schon!“, widersprach die Frau lächelnd. „Hier geht alles etwas langsamer zu. Bei den Schlaraffen vergeht ein Jahr wie bei euch ein Monat. Du musst dich darüber nicht wundern. Nun, wie sieht es aus. Bist du müde?“
Amelie, die ein Gähnen kaum unterdrücken konnte, nickte. Daraufhin führte sie Frau Caramella in ein Nebenzimmer, wo ein wunderhübsches Himmelbett stand. Amelie hatte sich kaum in die weichen Kissen sinken lassen, als ihr auch schon die Augen zufielen.
Am nächsten Morgen schien die Sonne hell in das kleine Fenster hinein und ließ die blauen Vorhänge leuchten. Mit lautem Kikeriki begrüßte ein bunter Hahn den neuen Tag. Amelie war sofort hellwach. Sie sprang aus dem Bett und sah sich um. Es war kein Traum gewesen! Sie war immer noch im Schlaraffenland! Neben dem Bett standen ein Tischchen und ein Stuhl. Auf dem Tisch befanden sich eine wassergefüllte Schüssel und daneben ein Handtuch, über der Stuhllehne hing ein rotes Kleid. Nachdem sich das Mädchen erfrischt hatte, zog sie das Kleid statt ihres Nachthemdchens an. Es passte wie angegossen! Als sie in die Stube trat, war Frau Caramella gerade dabei, das Frühstück zuzubereiten. Wie gestern Abend vollführte sie bloß ein paar Handbewegungen über dem Tisch, schon türmten sich duftende Pfannkuchen auf einem Teller, übergossen mit heißem Himbeersirup. In einer Schüssel lagen Krapfen, daneben stand ein Teller mit Rührei.
„Wie machen Sie das bloß?“, fragte Amelie verblüfft.
„Oh“, lachte Caramella, „das weißt du nicht? Wir, das Zaubervolk der Schlaraffenzwerge, haben alle diese Gabe. Der eine mehr, der andere weniger. Wir können Essen herbei- und wieder wegzaubern. Am besten gelingen uns Süßigkeiten, aber mit viel Übung kriegt man auch Rühreier hin. So, nun komm und lass es dir schmecken!“
Amelie setzte sich und sie aßen. „Wozu halten Sie sich denn Hühner, wenn Sie Eier herbeizaubern können?“, fragte sie schließlich.
Caramella schenkte Kakao nach. „Ach, die legen nur Ostereier. Die Hasen bringen sie im Frühling zu euch, das weißt du doch!“, sie zwinkerte Amelie fröhlich zu. Anscheinend machte es Caramella großen Spaß, einen Gast zum Essen dazuhaben. Immerfort verschwand eine Schüssel, aus der sich das Mädchen bereits genommen hatte, und es tauchten andere Leckereien stattdessen auf. Sahnegefüllte Windbeutel, schokoladenüberzogene Eclair, Streuselkuchen und Obsttorte kostete Amelie. Schließlich sank sie erschöpft zurück.
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