In diesem Augenblick hoffte Solana, dass das schaurige Gewitter lange anhalten würde, damit sie noch eine Weile so sitzen bleiben konnten. Schweigend saßen sie nebeneinander und schauten in das flackernde Kerzenlicht.
»Solana, in der kalten Jahreszeit kannst du hier nicht bleiben. Wir werden etwas anderes für dich finden müssen«, sagte Alwin leise.
»Was denn?«, fragte sie neugierig.
»Kannst du kochen?« Solana schüttelte den Kopf.
»Wäsche waschen und bügeln?« Wieder verneinte sie.
»Bisher habe ich nur ein einziges Mal meine Kleidung im Bach vor der Höhle gewaschen. Außer Gehorchen und Sprechen hat man uns wohl bewusst nichts beigebracht, damit wir von unserem Volk abhängig bleiben.«
»Okay, dann muss ich mir für dich etwas ganz Besonderes einfallen lassen.«
»Warum muss ich hier weg?«
»Weil es im Winter eiskalt wird, du würdest erfrieren.«
»Ach so«, sagte Solana lapidar, denn sie war sich der Tragweite ihres Schicksals nicht bewusst.
»Was heißt hier ‚ach so’?«, rief Alwin entrüstet und erklärte ihr dann, was es mit dem Erfrieren auf sich hatte. Langsam begriff sie, wie gefährlich es war und dass es für sie den Tod bedeuten würde. Das wollte sie selbstverständlich nicht, noch dazu jetzt, wo sie Alwin an ihrer Seite hatte.
»Ich hätte mir nie gedacht, dass es so schwierig ist, außerhalb des Berges zu leben. Wie konntet ihr das von Anfang an aushalten?«
»Weißt du, jeder von uns hatte Vorfahren, die ihr Wissen und ihre Erfahrungen an uns weitergaben. Auf diese Weise lernten wir, zu leben und zu überleben. Und jeder von uns macht täglich neue Erfahrungen, die er später selbst weitergeben wird.«
»Bei uns ist das ganz anders. Ein kleiner Teil der Gomas sind die Versorger und der Rest lebt in den Tag hinein, bis es Nacht wird und damit Zeit, sich zu verschmelzen.«
Alwin schmunzelte vor sich hin.
»Nicht schlecht. Ich fürchte aber, bei Euch wird es bald eine Bevölkerungsexplosion geben. Davon abgesehen würde mir dieses Leben auch gefallen«, sagte er grinsend.
Solana versetzte ihm einen leichten Hieb mit dem Ellbogen in die Seite.
»Es werden im Verhältnis sehr wenig Gomas geboren. Warum das so ist, weiß ich nicht, aber von diesen wenigen überleben viele nicht einmal die ersten Tage.«
Sie unterhielten sich weiter bis spät in die Nacht hinein. Irgendwann wurden beide von Müdigkeit übermannt und sie schliefen eng aneinandergeschmiegt ein.
Solana und Alwin verließen am Morgen sehr früh die Höhle. Sie gingen gemeinsam hinunter zum Gatter, dann trennten sich ihre Wege.
»Solana, ich muss jetzt meinem Vater helfen. Wenn ich fertig bin, komme ich zu dir hoch und wir treffen uns in der Höhle.«
»Woher weiß ich, wann du kommst?«
»Siehst du die drei Bergzacken dort drüben?«, fragte Alwin.
»Ja, die sehe ich«, antwortete Solana und folgte mit ihrem Blick seinem ausgestreckten Zeigefinger, der zu den Gipfeln deutete.
»Wenn die Sonne den abgeschnittenen Zacken in der Mitte erreicht hat, dann werde ich zu dir hochkommen.«
»Schön, und ich suche uns inzwischen etwas zum Essen.«
Alwin lächelte sie an und strich ihr sanft mit dem Zeigefinger über die Wange.
»Das brauchst du nicht, ich bringe uns etwas mit.«
Freudestrahlend sah Solana ihn an, doch plötzlich wurden ihre Gesichtszüge ernst.
»Musst du wieder gehen, bevor es dunkel wird?« Alwin sah sie ziemlich lange an.
»Wenn du möchtest, dann bleibe ich wieder bei dir.« Solana nickte eifrig mit dem Kopf. »Ja, ich möchte gerne, dass du bleibst.«
»Okay, dann werde ich bleiben.«
Alwin hob mit der Hand leicht ihr Kinn und sah ihr ins Gesicht. Dann gab er ihr einen sanften Kuss auf den Mund. Solana durchfuhr ein heftiges Kribbeln bis in die Zehenspitzen, während sie seine weichen Lippen auf den ihren spürte. Dann trennten sich ihre Wege.
Alwin nahm die Abkürzung über das Gatter und Solana lief wieder ein Stück aufwärts. Sie spürte immer noch seine Lippen auf ihrem Mund und hätte am liebsten vor Entzücken einen Glücksschrei losgelassen.
Wenn sie so ein kurzer Lippenkontakt schon derart beglückte, wie mochte es dann erst bei einem richtigen Kuss von ihm sein?Genau das war es, was sie schnellstens herausfinden wollte. Sie ging den schmalen Schotterweg am Hang entlang und war mit ihren Gedanken bei Alwin. Plötzlich hörte sie hinter sich den Kies knirschen und erstarrte. Abrupt blieb sie stehen und drehte sich hastig um. Hinter ihr gingen ein Mann und eine Frau, jeder von ihnen mit einem Stock in der Hand, und sahen sie freundlich an.
»Guten Morgen«, sagten beide zur gleichen Zeit.
Solana erwiderte den Gruß mit den gleichen Worten und musste wegen ihrer Schreckhaftigkeit über sich selbst lachen.
Sie betrachtete die Kleidung der beiden Wanderer und sah dann an sich herunter. In diesem Moment wusste Solana, dass sie unbedingt etwas anderes zum Anziehen brauchte. Nachdem sie jetzt für immer hier leben würde, musste sie sich natürlich auch in dieser Hinsicht anpassen.
Sie vernahm das Pfeifen eines Murmeltieres und blieb stehen. Mit den Augen suchte sie den ganzen Hang ab, da sah sie plötzlich auf einem großen Stein das kleine braune Murmeltier aufrecht stehen. Sie beobachtete es eine ganze Weile, bis es hinter dem Stein verschwand.
Solana ging weiter und staunte ob der schönen Umgebung und den herrlich hohen Bergen. Sie ging immer weiter aufwärts.
Die Hänge waren hier oben viel karger und der Wind pfiff ihr um die Ohren. Mächtige Felsentürme breiteten sich aus. Solana erreichte gerade ein schrofiges Felsengebiet, als sie unwillkürlich alarmiert zusammenfuhr.
Sie befand sich in unmittelbarer Nähe des Bergeingangs zur Höhle der Gomas. Hastig machte sie auf dem Absatz kehrt und lief eiligst wieder ein Stück abwärts. Da fiel sie über eine Baumwurzel und stürzte auf den Boden. Als Solana bäuchlings auf der Erde lag, knackte es im Gebüsch. Sie sah hoch und ein eiskalter Schauer fuhr ihr über den Rücken.
Ein Wächter der Gomas kam gerade aus dem Gebüsch. Rasch duckte sie sich auf den Boden in der Hoffnung, dass er sie nicht sehen würde. Solana traute sich kaum zu atmen, als sie mit Entsetzen sah, dass er direkt auf sie zukam.
Was sollte sie jetzt tun? Wenn er die Richtung beibehielt, würde er direkt auf sie treffen. Sie konnte doch nicht liegen bleiben und auf ihn warten.
Der Wächter kam immer näher und Solana standen trotz der Gänsehaut, die sich über ihren Körper zog, die Schweißperlen auf der Stirn. Als er nahe genug war, erkannte sie den Wächter: Es war Mos, der älteste unter ihnen und ein treuer Diener ihres Vaters.
Solana wusste, dass er nicht mehr der Schnellste war, und sah darin ihre Chance zu entkommen.
Allerdings wusste sie auch, dass er sie sofort erkennen würde, denn seine Augen waren noch gut. Sicherlich würde er ihrem Vater berichten, dass er sie gesehen hatte.
Schnell sah sie sich nach einem Fluchtweg um, auf dem sie verschwinden konnte. Solana entdeckte etwas weiter aufwärts eine enge Schlucht zwischen den Felswänden zweier Bergmassive.
»Okay, los!«, feuerte sie sich selbst leise an. Dann sprang sie auf und rannte um ihr Leben.
»Solana!«, hörte sie den Alten hinter sich rufen, doch da verschwand sie schon in der unwegsamen Schlucht. Es ging steil aufwärts und ein modrig feuchter Geruch lag in der Luft.
Sie rannte, bis sie nicht mehr weiterkam, weil ihr ein Wasserfall den Weg versperrte.
»Solana bleib stehen!«, hallte es in die Schlucht hinein.
Rasch versteckte sie sich hinter einem großen Felsenquader in unmittelbarer Nähe des Wasserfalls.
Sie spitzte hinter dem Felsen hervor und sah mit Erleichterung, dass ihr der Alte offenbar nicht gefolgt war. Dennoch verweilte sie eine angebrachte Zeit dahinter. Erst als sie sich sicher war, dass er wohl nicht mehr kommen würde, traute sie sich wieder hervor.
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