Hannelore Furch - Stalingrad 3000 km

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Hermann Sünders kehrt im Oktober 1955 aus russischer Kriegsgefangenschaft in sein Heimatdorf zurück, unwillkommen von Ehefrau Ella. Von ihr hatte er im Krieg nur Feldpost erhalten, weil sie fasziniert war von der langen Reise der Briefe: 3000 km nach Stalingrad. Hermann ist geprägt von einer glücklichen Jugendzeit im Dritten Reich, sodass er auch gern über diese Zeit samt Krieg redet. Aber immer kommen ihm anlässlich solcher Gespräche die quälenden eigenen Erlebnisse von Krieg und Gefangenschaft in Stalingrad und Umgebung in die Erinnerung zurück, auch das, was er später über NS-Verbrechen erfahren hat, und zerstören ihm sein geschöntes Bild vom Dritten Reich. Er macht es mit sich allein aus. In einer Gesellschaft, in der sich niemand für die NS-Zeit in der Verantwortung sieht, in der es nur noch Leute gibt, die schon immer gegen die Nazis waren, will er «den Heuchlern kein Fest» geben. Aus seinem inneren Zwiespalt heraus vermittelt er sogar seinem Sohn Thomas ein geschöntes Bild vom Dritten Reich. Folge ist, das Thomas, auf den sich in der 2. Hälfte des Romans der Hauptblickpunkt verlagert, in die rechtsextreme Szene hineingleitet. Dort geschehen Dinge, die ihn schwer belasten. Es geht vorrangig um die missglückten Lebenswege der beiden in den 1950er bis 1970er Jahren. Daneben geht es auch um das alltägliche Leben mit seinen Sorgen und Ärgernissen in einer Arbeiter-Familie, in der drei Generationen miteinander auskommen müssen. Gezeigt wird, wie man in diesem Milieu denkt, redet und handelt. Die Ereigniskette erfasst zeitgeschichtliche Höhepunkte wie Sozialgesetzgebung, Bau der Berliner Mauer, Bundestagswahl 1961, Erschießung Peter Fechters, Studentenrevolte und Ostverträge.

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Hannelore Furch

Stalingrad 3000 km

Die Geschichte eines Spätheimkehrers

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Inhaltsverzeichnis Titel Hannelore Furch Stalingrad 3000 km Die Geschichte - фото 1

Inhaltsverzeichnis

Titel Hannelore Furch Stalingrad 3000 km Die Geschichte eines Spätheimkehrers Dieses ebook wurde erstellt bei

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Impressum neobooks

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Roland Duderstädter, der in der Stadtverwaltung für's Personalwesen zuständig war, beschäftigte sich länger als üblich mit einem Brief in der aufgeklappten Unterschriftenmappe. Dabei kannte er ihn fast auswendig, hatte ihn vor einer Stunde erst diktiert. Eine Abmahnung an Hermann Sünders. Die an August Littmann müsste auf der nächsten Seite liegen. Er hatte ungefähr vor einem halben Jahr die gleichen Briefe diktiert und dann doch nicht unterschrieben. Hatte es vorgezogen, mit den beiden erst noch einmal zu reden. Sie hatten zusammen vor ihm gesessen, sich die Hand gegeben und versichert, dass nie wieder etwas dergleichen zwischen ihnen passieren werde.

Duderstädter dachte flüchtig an andere Arbeiter des Bauhofs, blasse Typen, die immer wieder krank und es nicht wert waren, dass Grummet, der Leiter des Bauhofs, oder Bakeberg, der Truppführer, sich überhaupt ihre Namen merkten, geschweige denn, sie mal erwähnten. Über Sünders sprach man, der hatte seine Grundsätze, und ein Schlagabtausch mit ihm war immer ein Gewinn. Dass Sünders sich als Bauarbeiter verdingte, hatte Duderstädter nie verstanden. Der Krieg hatte auch anderen die Berufschancen vermasselt, und viele von ihnen, ungleich dümmer als Sünders – einige tumbe Gesichter von Verwaltungsmenschen bauten sich vor ihm auf –, haben sich dennoch irgendwie weitergebracht nach dem Krieg. Nun ja, sie waren nicht noch weitere zehn Jahre in Kriegsgefangenschaft gewesen wie Sünders. Duderstädter überlegte, wer neben Sünders noch auf der Verliererseite stand, nur Littmann fiel ihm ein, nach weiterem Nachsinnen noch ein anderer vom Bauhof, Walter Schimmelrogge.

Egal, diesmal müsse Härte walten. Die beiden Raufbolde waren mit den Schaufeln aufeinander losgegangen, alle hatten es gesehen, ein unmögliches Benehmen. Duderstädter dachte an ihr gebrochenes Versprechen und unterschrieb diesmal die Briefe.

Der Brief lag geöffnet auf dem Küchentisch, als Hermann Sünders von der Arbeit heimkam. Er ließ ihn liegen, wusste von Bakeberg schon Bescheid. Was ihn ärgerte, war die Schwiegermutter, die so tat, als gelte ihre ganze Aufmerksamkeit den Küchengeräten, mit denen sie hantierte.

„Geht dich nichts an“, knurrte er gegen ihren Rücken, und musste sich doch eingestehen, dass ihr Interesse an seinen Angelegenheiten ihm angenehmer war als die mangelnde Teilnahme seiner Frau.

„Ge­reizt hat der mich wieder, ihr kennt ja seine Art ...“, suchte er das Gespräch mit Mathilde, und mit Ella, die eben die Küche betrat und seine Worte gehört hatte.

Mathilde drehte sich zu ihm um: "Der Krieg ist aus, Hermann, ihr beide führt ihn auf der Arbeit weiter. Was ist denn da bloß wieder gewesen?"

"'Aus dem Weg da, siehste nicht, dass ich mit der Karre komme?', so hat der mich angeraunzt, der blöde Heini, als ob der da das Sagen hat. War bei mir aber an der falschen Adresse.“

„Und du bist nicht aus dem Weg, die Karre ist umgekippt, weil August anhalten musste, dann hat er dir in den Hintern getreten, und du dann die Schippe ...“

Als Hermann schwieg, sagte Ella: "Du hast es wieder getroffen, Mutter. Wie Kinder im Sandkasten, die beiden.“

Hermann verzog das Gesicht, wollte das Thema wechseln und sah aus dem Fenster: „Mit Meta Main wird es immer schlimmer, die watschelt schon wie 'ne Ente, muss unbedingt was machen mit ihrer Hüfte.“

„Das hält sie für unnütz“, sagte Mathilde, „und du guckst auf die Straße statt in den Brief, der dir ja was angehen sollte.“

„Dich sollte ich angucken, bei dir fängst es auch schon an mit dem Watscheln“, konterte Hermann, trank seinen Muckefuck und begann, seine Fußlappen abzuwickeln.

„Was ist jetzt damit, mit dem Brief, kriegste den Lohn gekürzt oder so was?“

Hermann wickelte seine frischen Fußlappen zu Ende, sah, dass Ella hartnäckig auf Antwort wartete, und stand verärgert auf: „Wird mir zu viel gequasselt hier.“

Er entnahm einer Tasse im Kuchenbüfett ein Geldstück und ging auf die Stubentür zu, die auf eine Zwischendiele des alten Bauernhauses führte, von der es auf die große Diele und zur Ausgangstür ging.

Mathilde rief hinterher: „Nächsten Sonntag kommen sie zum Kaffee, Luise und August, die Lütte sowieso. August vor allen Dingen, dann reden wir mal alle zusammen über euch beide.“

Hermann winkte unwirsch ab, bevor er auf die Diele hinaustrat.

Ella schaute in der Tasse nach und knurrte: „Ja was sagt man dazu, 'ne ganze Mark hat der da rausgenommen. Die kriegt jetzt Helmut Marwede statt der Konsum. Es wird wieder knapp die Woche.“

Hermann Sünders war der einzige überlebende Sohn – der zuerst geborene war zweijährig an Mumps verstorben, ein zweiter verstarb kurz nach der Geburt - einer Kriegerwitwe des 1. Weltkriegs. Hermine Sünders arbeitete als Köchin im Heidesee , einem Ausflugslokal ungefähr in der Mitte zwischen der Kreisstadt Gifhorn und dem Dörfchen Neubokel, das von seinen Einwohnern verkürzt Bokel genannt wurde. Im Dorf lebte sie mit ihrem Sohn in einem kleinen Haus. Es stand am Dorfrand und befand sich, als sie es anmieteten, in einem verwahrlosten Zustand. Hermanns Vater war Maurer gewesen, sodass sie es sich selbst herrichten konnten. Im Gegenzug bezahlten sie eine abgesenkte Miete. Das war noch vor dem 1. Weltkrieg. Als im 2. Weltkrieg der Sohn eingezogen wurde, später geheiratet hatte, wollte Hermine weiterhin in ihrem Häuschen bleiben und war auch dort verstorben, 1954, ein Jahr, bevor Hermann als Spätheimkehrer aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft zurückkehrte.

Hermann wollte schon als kleiner Junge immer soviel gelten wie die gleichaltrigen Bauernsöhne des Dorfes. Seinen niedrigeren sozialen Status besserte er durch Fleiß auf, der ihn zusammen mit seiner Intelligenz in der Dorfschule zum Jahrgangsbesten machte, und sein Jahrgang bestand immerhin aus sechs Schülern. Die anderen hatten jeweils nur vier, damit erbrachte der Klassenraum für die Schuljahre fünf bis acht insgesamt achtzehn Schüler. Der zweite Klassenraum für die Schuljahre eins bis vier, in dem eine zweite Lehrkraft unterrichtete, wies ähnliche Schülerzahlen auf.

In dem Raum für die höheren Jahrgänge wurde immer einem Schüler der achten Klasse die Aufsicht übertragen, wenn der Lehrer mal den Raum verließ. Als Hermann diese höchste Stufe erreicht hatte, war grundsätzlich er es, dem diese Ehre zuteil wurde, denn er konnte sich allen anderen gegenüber durchsetzen, selbst der eine, August Littmann, mit dem er auf ständigem Kriegsfuß lebte, fügte sich hier drein, weil er kein Störenfried sein wollte, und grollte im heimlichen Hass gegen Hermann.

Den sozialen Abstand zu den Bauernsöhnen fand Hermann ungerecht, versuchte, ihn zumindest zu den Söhnen der Kleinbauern zu schmälern oder auszutilgen. August Littmann gehörte zu jenen, denen er sich ebenbürtig fühlte. Und Littmann fand Sünders' Verhalten anmaßend, und er versuchte bei jeder Gelegenheit, ihn zu kränken. Urgrund für diese seit früher Kindheit bestehende Feindschaft war die gegenseitige Ablehnung – man mochte sich vom Typ her einfach nicht. Darauf wiederum basierte der gegenseitige Neid auf das, was der andere war oder erreichte. Ein ständiger Hass und Kampf, der beiden das Leben in dem schönen Heidedorf eintrübte, in dem beide nicht fähig waren, diesen Zustand einzudämmen oder gar zu beenden. Selbst die Eltern, der Lehrer, ältere Schüler und andere Leute im Dorf, die sich Einfluss auf die beiden versprachen, hatten es mehrmals vergeblich versucht.

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