Das Warten ... Ihre Gedanken flüchteten in die Vergangenheit. Ein blondes Mädchen rannte über eine Wiese. Die Sonne schien, zahlreiche Blumen blühten dort. Der Boden fühlte sich weich unter ihren Füßen an und federte bei jedem Schritt. Auf einer Butterblume sah sie einen blauen Schmetterling, der in die Luft flatterte, weil sie sich so ungestüm genähert hatte. Neugierig folgte sie dem schwebenden Schmetterling bis an das Ende der Wiese, nachdem dieser eine Weile um sie herumgeflogen war. An diesem Ort war sie sehr oft alleine gewesen. Manchmal hatte sie ein paar Blumen gepflückt und mit nach Hause genommen. Aber dieses Mal verlief es anders. Der Schmetterling flog über den Waldweg am Rand der Wiese in den überwiegend undurchdringlichen Wald. Hier und da blinzelten Sonnenstrahlen durch das dichte Blätterdach bis auf den Pfad, dem sie folgte, obwohl ihr verboten war, alleine dort hineinzugehen. Doch der Schmetterling schien immer wieder auf sie zu warten. Sie war so gefesselt von seiner Anmut, dass sie überhaupt nicht merkte, wie weit sie diesem bereits gefolgt war. Unruhig stellte sie fest, dass diese Gedanken nicht mehr zu ihren Kindheitserinnerungen gehörten, konnte sie aber nicht unterbrechen. Plötzlich tauchten Gnome, Hexen und Waldgeister auf, die sie umringten und vom Weg abdrängten, um sie durch den dunklen Wald auf eine Lichtung mit einem teilweise verfallenen Haus zu führen. Nicht einmal in der Vorstellung gelang es ihr, eine starke Heldin zu sein, um sich den Dämonen zu entziehen. Mitleidlos wurde die schiefe Tür quietschend hinter ihr geschlossen. Mit aller Kraft biss sie sich schließlich in den Arm, um ihre Aufmerksamkeit von der bedrohlichen Gedankenkette, die sich in Gang gesetzt hatte, abzulenken. Der Schmerz holte sie in die Realität zurück. Eine Heldin wäre sie manchmal gerne gewesen. Aber dafür war sie insgesamt wohl zu schüchtern, was hier in der Dunkelheit kein Charaktermerkmal war, das große Bedeutung gehabt hätte. Vielleicht wäre sie gar nicht erst hierhergekommen, wenn sie lieber in Diskotheken gegangen wäre und mehr Freunde gehabt hätte?
In einem wütenden Impuls trat sie mit dem nackten Fuß gegen einen der Gitterstäbe ihres Käfigs, der jedoch um keinen Millimeter nachgab. »Nein«, schrie sie aus Leibeskräften, »ich bin nicht schuld daran, hier zu sein. Nein, nein, nein, ich bin auch nicht schuld, dass andere beschlossen haben, mir das anzutun.« Sie begann zu schluchzen, das in einem letzten markerschütternden »Neiiiin« endete. Danach sank sie lethargisch in sich zusammen und begann aus der Leere, die der verzweifelte Wutausbruch hinterlassen hatte, in einen Halbschlaf hinweg zu dämmern.
Jo Kühne saß gemütlich hinter seinem Schreibtisch und schaute die beiden Kommissare aufmunternd an. Ihm war durchaus klar, dass Thomas Sprengel und Lene Huscher nicht bei ihm waren, um Urlaub zu beantragen. »Was kann ich für euch tun?«
»Wir sind der Meinung«, Thomas räusperte sich, »dass es gut wäre, beide Dezernate an der Aufklärung der Todesumstände von Sylvia Tröger zu beteiligen.«
»Wenn ich euch nicht kennen würde«, schmunzelte ihr Chef, »würde ich meinen, ihr hättet außerberufliche Interessen. Aber ihr seid ja schon verheiratet. Also was gibt es?«
Lene ergriff das Wort und erzählte von Cornelia Fabers Aussage. »Wir vermuten, dass sie kein Einzelfall gewesen sein dürfte. Sylvia Tröger könnte bei der Suche nach ihrer Schwester auf ähnliche Hinweise hinsichtlich Marions Schicksal gestoßen sein. Möglicherweise ist die nicht nach Indien und Nepal gereist, sondern bei einer Prozedur, wie sie Frau Faber über sich hat ergehen lassen müssen, sogar verstorben.«
»Hmmh«, war Jo Kühne interessiert, aber skeptisch, »was spricht dagegen?«
»Mutter und Schwester hätten gemerkt, wenn das auf der Karte nicht Marions Schrift gewesen wäre ...«
Der Kriminaldirektor nickte. »Und es scheint mir nicht sehr wahrscheinlich, dass ein Ableben von vorneherein einkalkuliert war. Dann hätte Frau Faber ebenfalls prophylaktisch eine Abschiedskarte schreiben müssen. Oder hat sie das?«
Lene schüttelte den Kopf.
»Gut«, zeigte der wie immer braun gebrannte Triathlet bis hierher keine interpretierbare Reaktion. »Was habt ihr mir noch anzubieten?«
»Diese Erneuerungsbewegung«, holte Thomas Sprengel weiter aus, »hat sich von der sogenannten ›3HO‹ abgespalten, der ...«, er musste erst auf seinen Zettel schauen. Diesen esoterischen Slang konnte er sich einfach nicht merken. Hoffentlich verschonte ihn Lene mit dem Thema Yoga. Sie hatte bereits vor einem Jahr angedeutet, das ausprobieren zu wollen, und zu seinem Unglück war Ekaterina inzwischen vollkommen begeistert ... und Susanne, puh. Immerhin war Heiko bisher gegen diesen Frauenkram resistent geblieben. »... ›Healthy Happy Holy Organization‹ eines Yogi Bhajans. Anfang der Neunziger hatte Matthias Untersberger einen Ashram der ›3HO‹ in Hamburg übernommen, dessen Gründerehepaar in die USA zurückkehren wollte. Wenige Jahre später ist bekannt geworden, dass Untersberger für ausgewählte Suchende psychogene Drogen verwendete. Sexgeschichten wurden ebenfalls kolportiert. Für Yogi Bhajan waren Drogen sowie das Berühren der Schüler und Schülerinnen im Unterricht undenkbar, so dass Untersberger aus der ›3HO‹ ausgeschlossen wurde, weil er die Statuten massiv verletzt hatte. Anders als erwartet, traten aber die anderen Ashram-Mitglieder ebenfalls aus und Untersberger gründete die Erneuerungs-Bewegung, die sich über die Jahre immer erfolgreicher international ausbreitete. Er benutzt weiterhin die von dem Yogi gelernten Techniken, verzichtet aber auf die strengen moralischen Regeln Yogi Bhajans, wodurch sich scheinbar erst sein Erfolg einstellen konnte, wenn man die Entwicklung mit den Zahlen der ›3HO‹ vergleicht. Die meisten der parallel gegründeten Firmen produzieren alles, was man für Yoga braucht, und sind als Tochterfirmen kaum den Erneuerungsleuten zuzuordnen. Der Jahresgewinn aller Sparten vor Steuern beläuft sich inzwischen auf fast dreißig Millionen Euro.«
Jo Kühne pfiff durch die Zähne. »Ich hätte nicht gedacht, dass man mit ein bisschen Alle-haben-sich-lieb so viel Geld verdienen kann. Aber du willst ein Motiv konstruieren, sehe ich das richtig?«
Auf den Kopf gefallen war ihr Chef wahrlich nicht. »Genau. Wenn Sylvia Tröger auf etwas gestoßen sein sollte, das den Ruf dieses Vereins nachhaltig beschädigt hätte, würde das gesamte Marketing ins Leere laufen.«
»Bei einem einzigen Fehltritt?«, zweifelte Kühne diese Wirkung an.
»Das wäre durchaus möglich«, fügte Lene hinzu. »Frau Faber hat noch ein wenig über Interna geredet. Die meisten in den Ashrams folgen der Bewegung aufgrund ihres charismatischen Führers. Wenn dem ein Verbrechen gegen ein Mitglied nachgewiesen würde, wären er und das Konzept absolut unglaubwürdig.«
»Das kann ich ...«, wollte Jo Kühne relativieren, wurde aber von seinem Kommissar höflich unterbrochen. »Darf ich?«
Sollte er der Werbung für eine Soko ausgesetzt werden? »Bitte«, blieb er jedoch gelassen und offen für die Argumente der beiden.
»Yogi ...«, Thomas Sprengel schnaufte, weil er ein weiteres Mal seinen Zettel bemühen musste. »Yogi Bhajan war ebenfalls eine überaus charismatische Person. Der hat das allerdings mit dem Dienst an den Menschen und den Mitgliedern der ›3HO‹ sehr ernst gemeint. Bis zu seinem Tod hielt sich das Wachstum der Erneuerungsbewegung in Grenzen, danach fehlte es der ›3HO‹ an einer ...«, er zögerte, weil er nicht wusste, wie er das formulieren sollte, Lichtgestalt ging überhaupt nicht, »... alles überstrahlenden Persönlichkeit«, rettete er den Satz schließlich. »Im Laufe der Zeit setzte zudem eine gewisse Erosion ein, indem beispielsweise nach dessen Tod ›holy‹ nicht mehr ausschließlich mit ›heilig‹, sondern immer häufiger auch mit ›ganzheitlich‹ übersetzt wurde.« Der Hauptkommissar stöhnte. »Frag mich nicht, was daran so schlimm sein soll, aber Tatsache ist, dass nach Bhajans Tod das Wachstum der Erneuerungsbewegung rasant zugenommen hat. Das könnte natürlich nur zufällig gewesen sein, weil sich die Zeiten deutlich geändert haben und die Leute sich heutzutage weniger gerne in strenge Regeln fügen.«
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