Die Sirenen heulten über dem Dorf auf, so dass keiner das Klopfen an der Tür hörte, und ein Offizier vom Range eines Majors den Raum betrat, der diesmal nicht als Spezialist vom Lazarett des Militärcamps in Ondangwa kam, sondern vom Brigadegeneral aus dem Dorf geschickt wurde, um mit dem Superintendenten zu sprechen, dem er eine Botschaft von höchster Stelle zu überbringen hatte. Damit war die Morgenbesprechung beendet, obwohl vieles mehr hätte besprochen werden müssen. Die Teilnehmer nahmen es gelassen hin und verließen den Raum mit der klaren Erkenntnis, dass diese Besprechungen bislang so gut wie nichts am Zustand des Hospitals geändert hatten, die deshalb der Schweizer Kollege seinerzeit als sinnlose Zeitverschwendung deklarierte und sich persönlich von diesem Zirkus, wie er es nannte, ausschloss, was er konsequent bis zu seinem Rückflug in die Schweiz befolgte. Der junge Kollege, der in seiner Freizeit an einem Buch über das Leben eines jungen Ehepaars schrieb, das wegen der Rassengesetze Südafrika verlassen hatte und nach Neuseeland emigriert war, eilte Dr. Ferdinand nach, um ihm über den neuesten Stand seiner Erzählung zu berichten. „Als ich die Sirene über dem Dorf heulen hörte“, sagte der junge Kollege fast aufgeregt, „hörte ich die kleine Glocke der Dorfkirche an der Palliser Bucht läuten. Sie läutete in der Nacht und lange, um die Dorfbewohner vor dem anrückenden Taifun zu warnen, der jedes Jahr im Juni über die Insel stürmt, Dächer abhebt und Häuser eindrückt und umkippt, wobei die anrollenden Flutwellen das Land hinter der Bucht überschwemmen. Einige Male stand das kleine Dorf unter Wasser, und auch die aufgeschichteten Sandsäcke vor den Eingängen konnten nicht verhindern, dass das Wasser in die Häuser drang. Die Menschen fuhren in Kanus, die übers Jahr mit dem Kiel nach oben neben den Häusern auf niedrigen Holzböcken lagen und in größeren Booten durchs Dorf und brachten ihre Schafe und Ziegen ins Trockene zum Weiden.“ Dr. Ferdinand freute sich, dass der junge Kollege an seiner Geschichte arbeitete. Er fand die Assoziation mit der heulenden Sirene nicht uninteressant und wollte an das nächtliche Sturmläuten der kleinen Kirchturmglocke an der Palliser Bucht denken, wenn die Dorfsirenen das nächste Mal heulten, und an das Sirenenheulen denken, wenn er im fertig gestellten Buch die Stelle mit dem Sturmläuten der Glocke las, das die Dorfbewohner vor dem anrückenden Taifun warnen sollte. Auf dem Weg zum „theatre“ wurden sie aus dem Gespräch gerissen, als eine schwarze Frau, die weiß geblieben war, weil ihr als „Albino“ die Melanozyten nicht in die Haut mitgegeben waren, vor ihren Augen plötzlich zusammenbrach und einen epileptischen Anfall auf dem harten Betonboden bekam. Das kleine Mädchen von normaler schwarzer Hautfarbe, das die Albinomutter an der Hand geführt hatte, war hilflos und weinte in kindlicher Sorge um die Mutter. Dr. Ferdinand bucket sich über die Krampfende, der der Schaum vor dem Mund stand, drehte und hielt ihren Kopf zur Seite, wischte ihr den Schaum mit seinem Taschentuch vom Mund und beugte einer Aspiration vor. Er konnte nicht verhindern, dass sich die Frau auf die Zunge biss, denn er konnte ihren Mund nicht öffnen. Ihr Kaumuskel krampfte, gegen dessen Stärke seine Finger nicht ankamen. Das Mädchen stand ihm gegenüber und ließ sich den traurigen Anblick der Mutter nicht nehmen, während er es sich gefallen ließ, dass die Krampfende ihm den Schaum ins Gesicht spuckte. Der junge Kollege und eine Schwester brachten die Trage auf quietschenden Rollen. Gemeinsam hoben sie die Mutter auf die Trage, Dr. Ferdinand nahm das Mädchen an die Hand, und sie fuhren mit ihr zum kleinen OP-Raum des „Outpatient departments“, um ihr den Schaum aus dem Mund zu saugen, die Platzwunde über dem Hinterkopf zu nähen und die Risswunden an den Armen ihrer ohnehin rissigen, vom Ultraviolett der Sonne verstrahlten Haut zu säubern und zu verbinden, die von zahlreichen fleckigen Narben und Geschwüren überzogen war. Das Mädchen schluchzte noch in den Armen einer alten, verständigen Memme auf der Bank vor dem kleinen OP-Raum, als die Mutter zu sich kam und mit Kopfverband und Verbänden an den Armen von Dr. Ferdinand hinaus- und dem verweinten Mädchen zugeführt wurde. Sie setzte sich neben die ältere Memme, nahm das Töchterchen, das große Augen machte, auf ihren Schoß, drückte es an sich und dankte dem Arzt herzlich für seine Mühen. Wie so oft nahm Dr. Ferdinand diesen Dank berührt entgegen, weil er spürte, dass dieser Dank aus dem Herzen kam, und strich mit der Hand dem Mädchen über die verweinten Wangen. Die Schwester brachte noch die Tabletten zur Sedierung des zentralen Nervensystems und drückte das Tütchen mit dem Abgezählten der Mutter mit dem Töchterchen auf dem Schoß in die Hand. Die Augen der Mutter hatten die Ruhe noch nicht gefunden. Die Tabletten sollten für die nächsten zwei Monate reichen. Nach dieser unvorhergesehenen Verspätung betrat Dr. Ferdinand das „theatre“ und wechselte die Kleidung im Umkleideraum. Der junge Kollege war schon vorausgegangen, um Dr. Lizette und die OP-Schwester vom Grund der Verspätung zu unterrichten. An diesem Tage standen chirurgische Patienten auf dem Programm, eine Frau im mittleren Alter mit einer enorm vergrößerten Schilddrüse, ein Kind mit einem Zungenbändchen, dem das Bändchen das Herausstrecken der Zunge unmöglich machte, eine Frau, die mit Steinen in der Gallenblase unter starken Koliken litt, der die Gallenblase entfernt werden musste, und eine Probelaparotomie bei einem älteren Mann, der an Gewicht verloren und einen tastbaren Tumor im Oberbauch hatte. Die Besuche der Spezialisten aus Ondangwa, die eine Hilfe bei der Abwicklung der Dienstags- und Freitagslisten waren, hatten mit dem Weggang der meisten uniformierten Kollegen, die nicht mehr durch neue ersetzt wurden, das Prinzip der Regelmäßigkeit verlassen. Diese Besuche hatten den Charakter des Sporadischen angenommen, wobei der Grund des Kommens sich häufig auf Besprechungen mit dem Superintendenten oder ärztlichen Direktor beschränkte. Da die Patienten und jüngeren Kollegen, die noch im Lernstadium waren, von diesen Besuchen immer weniger profitierten, konnte Dr. Ferdinand mit einer akademischen und operativen Unterstützung durch diese Spezialisten in ihren hochkarätigen Uniformen nicht mehr rechnen. Er hatte ja von jeher seine Bedenken bei den Ärzten in Uniform, warum sollte es bei den Spezialisten in den Offiziersröcken anders sein? So stellte er seine persönlichen Vermutungen an, dass da in der Doppelfunktion dieser Akademiker in Anbetracht der immer kritischer werdenden Situation, wo der Umschlag des Pendels doch nur noch eine Frage der Zeit war, das analytische Differential zugunsten der Uniform gezogen wurde. Wie dem auch war, es bedeutete mit weniger Ärzten ein erhebliches Maß an Mehrarbeit, die gemacht werden musste, um das Hospital am Laufen zu halten. Er wusch sich die Hände und ließ sich in den OP-Kittel helfen, streifte sich die Handschuhe über und trat an den OP-Tisch, auf dem die Patientin in Narkose und mit sterilen Tüchern abgedeckt lag. Wie schon gesagt, die Schilddrüse war enorm vergrößert und reichte bis ans Brustbein heran. Die Präparation war zeitaufwändig und das Auffinden der oberen Polarterie schwierig, die auf beiden Seiten zu unterbinden und zu durchtrennen war. Die Operation dauerte fast zwei Stunden, als Dr. Ferdinand völlig durchgeschwitzt das Rohr der Wunddrainage an den zusammengedrückten Ziehharmonika-Plastikbehälter anschloss und den Wundverband auflegte. Er rieb sich den Schweiß im Umkleideraum von Gesicht, Hals und Brust, fuhr einige Male mit einem trockenen Hemd durch die nassen Haare, harkte die feuchten Strähnen zwischen den gespreizten Fingern einigermaßen zurecht und ließ sich mit frischem grünen Hemd und frischer grüner Hose im Teeraum nebenan den gesüßten „Rooibos“-Tee schmecken, während Dr. Lizette die Spritze zur Kurznarkose für das Kind mit dem Zungenbändchen aufzog. Die Durchtrennung des Bändchens mit dem Thermokauter dauerte etwa eine Minute, und Dr. Ferdinand hielt diesen operativen Eingriff für den kürzesten, den es in der Chirurgie gab, wenngleich ihm eine beachtliche Bedeutung beim Herausstrecken der Zunge zukam. Dr. Lizette stellte sich für einige Minuten neben Dr. Ferdinand, als dieser sich für die dritte Operation, die Entfernung der Gallenblase mit den Steinen, wusch, um ihm zu sagen, dass sie und ihr Mann das Gespräch am vergangenen Abend als interessant und aufschlussreich empfunden hätten, was er von sich aus ebenfalls bestätigte. Sie fügte hinzu, dass sie noch bis in die Nacht hinein über das Problem des Arztes in Uniform diskutiert, aber keine Lösung der Doppelberuflichkeit in einer Person gefunden hatten, die dem Eid des Hippokrates voll Rechnung trug. „Das ist es ja, was die Sache so schwierig macht“, meinte Dr. Ferdinand beim Betreten des OP-Raums, wo Dr. Lizette mit der Narkose begann. Er sagte, dass man sich für einen Beruf entscheiden müsse, weil man zwei Berufe in einer Person nicht ausführen könne, vor allem dann nicht, wenn der eine ein militärischer ist und der andere ein ärztlicher. Sie stand hinter dem Narkosebügel und schaute der Operation so aufmerksam zu, dass Dr. Ferdinand den Eindruck hatte, sie wollte die abendliche Diskussion fortsetzen, während er die Gallenblase frei präparierte und die Klemme am Blasenhals vor der Einmündung in den quer verlaufenden Gallenhauptgang ansetzte, weil bei dem Gespräch das ärztliche Ethos auf dem Spiel stand, dem die Uniform mit dem militärischen Auftrag abträglich war. Der junge Kollege hatte sein anatomisches Wissen durch das einfühlsame und geschickte Assistieren bewiesen, wofür ihm Dr. Ferdinand beim Auflegen des Verbandes als Erstem dankte. Sie machten eine kleine Teepause, als er nun den jungen Kollegen ein bisschen mehr von den Menschen an der Palliser Bucht erzählen ließ, was Dr. Lizette mit größtem Interesse verfolgte. Er erwähnte wieder das Sturmläuten der kleinen Kirchturmglocke, als Dr. Ferdinand es nicht vergaß, an das morgendliche Sirenenheulen über dem Dorf bei der dann vorzeitig abgebrochenen Besprechung zu denken, weil ein Major dem Superintendenten eine Botschaft vom Brigadegeneral überbrachte. „Wo ist die Palliser Bucht? Das hört sich ja geheimnisvoll an“, sagte Dr. Lizette, und der junge Kollege begann seine Geschichte von vorn, die die Kollegin aufregend fand. Als er nach der verkürzten Rückschau wieder beim Sturmläuten der kleinen Kirchturmglocke angekommen war und Dr. Ferdinand wieder das Heulen der Sirenen im Ohr hatte, ließ die OP-Schwester durch eine Schülerin ausrichten, dass der Patient auf dem Tisch lag, womit die Geschichte abgebrochen wurde, was Dr. Lizette, die da offensichtlich ihre Phantasie schon spielen ließ, gar nicht gefiel. Sie gingen an die Arbeit zurück, die bei den Chirurgen mit dem Händewaschen und bei Dr. Lizette mit den Vorbereitungen der Narkose begann. Die OP-Schwester hatte gewechselt, da die Mittagspause eingesetzt hatte, und so war es nun eine jüngere, die sich selbst im grünen Kittel ein hübsches Gesicht bewahrte. Es blieb eine Probelaparotomie (diagnostische Eröffnung der Bauchhöhle) im wahrsten Sinne des Wortes, da das Karzinom nicht nur den Großteil des Magens erfasste, sondern bereits inden Querdarm eingewachsen war und dazu noch große Metastasen in der Leber und weitere Metastasen im großen Netz und in zahlreichen Lymphknoten gesetzt hatte. Diesem Patienten, der so alt noch nicht war, hatte das Schicksal nur noch eine kurze Frist gegeben. Dr. Ferdinand übergab Nadelhalter und Pinzette dem jungen Kollegen und assistierte ihm beim Zunähen der Bauchwandschichten. „So ein Kranker würde wahrscheinlich auf das Sturmläuten der kleinen Kirchturmglocke an der Palliser Bucht nicht mehr reagieren“, meinte Dr. Ferdinand nachdenklich, als der junge Kollege die vorletzte Hautnaht setzte.
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