Die Brüder ließen sich das nicht zweimal sagen. »Heil Hitler!«, salutierte Alfred noch im Gehen, was dem Rangführer zu einem galgenhumorhaften Lachen inspirierte.
»Die haben’s immer noch drauf! Wie blöd muss man eigentlich sein? Ich wusste es und werde eines Tages auch begreifen warum!«
Auf dem gleichen Weg, den sie gekommen waren, verließen sie die ungastliche Stätte. Gerade als sie im Begriff waren, zur Kellerluke emporzusteigen, bebte die Erde. Steine und Sand flogen umher und Christian schaffte es gerade noch seinen Kopf einzuziehen. Millisekunden später hätte ihn mit ziemlicher Sicherheit ein Mauerstein getroffen. Dem vorangegangenen Knall nach zu urteilen, musste ein Geschoss in das Haus über ihnen eingeschlagen sein. Christian merkte, wie sich seiner eine grenzenlose Panik bemächtigte. Hastig und mit bloßen Händen schaufelten sich die Brüder ins Freie. Richtig, es musste eine russische Artilleriegranate gewesen sein, die das Haus zertrümmert und einen großen Krater hinterlassen hatte. Am Rand des Einschlags liegen zwei Zivilisten in einer Blutlache. Christian kannte Martin Bormann nur von Fotos aus der Zeitung und trotzdem war er sich sicher. Da lag der persönliche Sekretär des Führers!
»Alfred, schau, der Reichsleiter!«
Der Bruder würdigte ihn keines Blickes.
»Das ist mir so was von scheißegal!«, antwortete er im gleichen ironischen Tonfall wie soeben der Rangführer und fügte noch hinzu: »Kannst ihn ja einbuddeln, wenn du willst. Ich will jetzt nur eins, raus hier! Also quatsch nicht, pass lieber auf, dass du nicht gleich daneben liegst!«
Der Rückweg erwies sich noch beschwerlicher, musste man doch die russische Kampflinie überwinden. Doch mit viel Geschick gelang den Brüdern auch dies. Endlich standen sie wieder vor dem Eingang des Stettiner Bahnhofs. Doch der geordnete Rückzug wird ihnen durch eine große Scherengittertür verwehrt.
»Halt! Stehenbleiben!« Schwerbewaffnete SS-Männer kommen auf sie zu.
»Hier! Passierschein! Geheime Reichssache!«, hält Alfred ihnen sein Schriftstück unter die Nase.
Der Truppführer grinst unverhohlen: »So, so. Geheime Reichssache! Von welchem Planeten kommt ihr denn? Na, auch egal. Jedenfalls, hier geht’s nicht weiter! Alles unter Wasser! Haben den Russen keine Möglichkeit geboten und dabei auch gleich alle Volksschädlinge mit weggespült!«
Christian war fast gewillt zu sagen: »Frauen und Kinder«, behielt es aber lieber für sich. Die sahen nicht gerade aus, als würden sie verstehen. Es war der 2. Mai 1945, als man in den Morgenstunden den Tunnel unter dem Landwehrkanal sprengte und damit die meisten Schächte unter Wasser setzte, um dem Russen ein schnelleres Vorstoßen zu verwehren. In Sekundenschnelle drangen die Wassermassen ein und rissen alles mit, was ihnen in die Quere kam. Ein völlig sinnloses Unterfangen, Tage vor der bedingungslosen Kapitulation, was zusätzlich tausenden Menschen das Leben kostete. Frauen, Kinder, verwundete Soldaten, die für ihr Vaterland gekämpft hatten, bis zum letzten Atemzug, bis zur letzten Patrone. Wie hatte der Führer doch in seinem Testament festhalten lassen: »Das deutsche Volk hat versagt, deshalb hat es auch kein Recht weiterzuleben!«
»Scheiße!«, kommentierte Alfred den Hinweis des Truppführers und Christian zugewandt befahl er: »Los, sehen wir zu wie wir weiterkommen!« Die beiden waren gerade ein paar Schritte gegangen, als mit einem ohrenbetäubenden Knall eine Granate dort einschlug, wo sie vor wenigen Sekunden noch gestanden hatten. Die Druckwelle des Geschosses war so stark, dass die Brüder mit aller Wucht zu Boden geschleudert wurden. Alfred richtete sich als erster wieder auf und schaute Richtung Bahnhof. Dort, wo eben noch der SS-Trupp stand, lagen blutüberströmte Leichenteile. Ein Bild des Grauens. Dann blickte er auf seinen Bruder, der immer noch auf dem Boden lag, zitterte, wimmerte, aber augenscheinlich unverletzt geblieben war.
»Reiß dich zusammen! Los steh auf, wir müssen weg hier!« Da Christian offensichtlich keine Anstalten machte sich zu bewegen, rannte Alfred auf ihn zu und zog seinen Bruder am Kragen in die Höhe. »Reiß dich zusammen!«, wiederholte er nochmals in harscherem Tonfall, als er das umgestürzte Krad der SS sieht. »Los komm! Vielleicht haben wir Glück.« Alfreds Mienenspiel erhellte sich merklich, als das Motorrad schon beim ersten Versuch ansprang.
Mit Vollgas fuhren sie in Richtung Stadtgrenze und es war nahezu ein kleines Wunder, dass kein Russe ihren Weg kreuzte. Die waren mit der Einnahme des Reichstages völlig überlastet. Die Kochbrüder fuhren geradewegs durch die russischen Kampflinien! Etwa drei Kilometer vor Strausberg ging dem Krad stotternd der Treibstoff aus. »Scheiße! Auch das noch!«, schrie Alfred in die immer noch nach Schießpulver riechende Luft. Rennend durch die Wälder erreichten sie mit letzter Kraft die kleine Lichtung und wurden wieder einmal mit Maschinenpistolen empfangen. Hilde und Stubbe waren wohl zu allem entschlossen.
»He, seid ihr verrückt geworden?! Wir sind’s!«
Sichtlich erleichtert senken die beiden ihre Waffen. »Man, ich dachte ihr kommt gar nicht mehr. Wie seht ihr eigentlich aus? Was ist passiert?« Mitleidig schaut Hilde auf die beiden blutverschmierten, in Schweiß gebadeten Brüder, deren Kleidung zerrissen und staubig ist. Es war offensichtlich, dass sie am Ende ihrer Kräfte waren.
»Ihr habt doch keine Ahnung!«, stellte Alfred fest: »In Berlin ist der Teufel los! Der Russe steht vor der Reichskanzlei, der Führer ist gefallen. Dass wir hier angekommen sind, grenzt an ein kleines Wunder!«
Als erste fand Hilde die Fassung wieder: »Und was passiert nun?«
»Es geht alles so weiter wie befohlen! Wir bereiten alles vor, laden, sind bereit und warten!« Auf wen oder was gewartet werden sollte, ließ Alfred offen. Hilde nickte nur. Offensichtlich waren ihr mehr Einzelheiten bekannt. Sie räumten eine Art Startbahn frei, befestigten Seile an den Tragflächen und zogen unter maximalem Kraftaufwand das Flugzeug ins Freie. Während Christian und Stubbe den Flieger mit den Kisten beluden, standen Hilde und Alfred wieder abseits und tuschelten. Es schien, als seien sie sich uneins über die weitere Verfahrensweise, und eine dunkle Vorahnung sagte Christian, dass es dabei um ihn und seinen Kameraden Paul Stubbe ging.
Als nur noch eine Kiste im »Bunker« stand, kam Alfred lässig auf sie zu, riss mit einem Ruck ein Maschinengewehr an sich und entsicherte. Fassungslos starrten die beiden Freunde ihn an.
»Was soll das?«, fragte Christian aufgeregt.
Alfred hatte einen versteinerten Gesichtsausdruck: »Los! Lauft vor mir her!«, dabei deutete er in eine Richtung abseits der Lichtung. Sie liefen ein paar Schritte, dann kommandierte er: »Stehen bleiben!«
»Alfred, was soll der Quatsch?«, fragte sein Bruder noch einmal, diesmal sehr eindringlich.
»Es tut mir leid, aber im Flugzeug ist nicht genug Platz für uns alle. Und ihr wisst leider zu viel. Das Risiko können wir nicht eingehen. Wie gesagt, es tut mir leid!«
Er zog die Waffe hoch, als es plötzlich wieder raschelte und zwei russische Soldaten, wie aus dem Nichts heraus auftauchten. »Waffe runter! Krieg vorbei! Hitler kaputt!«, stotterte der eine in gebrochenem Deutsch und machte eine dementsprechende Geste mit der Hand.
Keine Frage, die beiden waren ebenso erschrocken über das Aufeinandertreffen wie die drei Männer, die sie soeben überrascht hatten. Ruckartig drehte Alfred sich um und feuerte in Richtung der Russen, die nun ihrerseits das Feuer eröffneten. Geistesgegenwärtig sprangen Christian und Stubbe ins Dickicht, sahen wie Alfred unter dem Kugelhagel herumgewirbelt wurde, zogen ihre Pistolen. Die Russen waren angeschossen, gaben aber nicht auf.
Jetzt ging alles sehr schnell. Während Christian und Stubbe vor lauter Angst ihre Magazine leerschossen und die beiden Russen blutüberströmt zusammenbrachen, startete Hilde den Flieger und schickte sich an, diesen Ort schnellstens zu verlassen. Jeder ist sich eben selbst der Nächste. Christian sieht auf den toten Bruder, sieht wie ein Papierumschlag mit der Aufschrift »Geheime Reichssache« auf dem Waldboden liegt. Mehr instinktiv als überlegend greift er zu. Alfred und die Russen waren tot, nicht weiter darüber nachdenken.
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