Die Schwermut, die im Beginn des Brahms-Konzertes herauszuhören war, für mich so deutlich, dass mir plötzlich Bilder mit dem breiten, träg dahinfließenden Wolgastrom in den Sinn kamen, reichte im Vergleich zum Beginn der Fünften von Tschaikowsky, dem Andante, nicht heran. Die Emotion der Schwermut, wie sie russisch empfunden und vom großen russischen Genius vertont wurde, ist um ein vielfaches stärker. Sie ist so stark, dass ich erzitterte, weil mir mit der Eingangsmelodie im Andante die fürchterlichen Bilder der verzehrten, ausgehungerten Häftlinge in den KZ’s der Nazi oder den Stalin’schen Arbeitslagern vor das Auge traten und ich sie im Geiste diese Melodie summen hörte, wenn sie im frühen Morgengrauen zur Arbeit ausrückten, in der späten Abenddämmerung zurückkehrten oder sich an einem kalten Wintermorgen versammelten, um entkräftet und entwürdigt zum frisch ausgehobenen Massengrab, zur Erschießungsmauer oder zur Gaskammer geführt zu werden. Bei der Vorstellung dieser Einsamkeit und Verlassenheit des Menschen hat es mich geschüttelt.” Vera: “Da hat Sie Tschaikowsky aber hart getroffen.” Boris: “Das hat er mit Sicherheit, und jedesmal, wenn ich den Beginn des Andante höre, erfasst mich das Zittern von neuem.” Vera: “Aber Boris Baródin, Sie sind zu jung, um von diesen Grausamkeiten zu wissen. Ihr Wissen davon können Sie doch nur von Erzählungen bekommen haben.” Boris: “Das stimmt. Aber schon die Erzählungen, die ich von meinem Vater, dem Sowjetgeneral Ilja Igorowitsch Tscherebilski, und meinem Großvater, dem ehemaliger Breslauer Superintendenten Eckhard Hieronymus Dorfbrunner, bekommen habe, haben sich schwer auf meine Seele gelegt. Die Erzählungen, wie grausam da mit den Menschen umgegangen wurde, haben sich tief in mein Gedächtnis eingemeißelt. Sie sind für mich furchtbar und unvergesslich. Glauben Sie mir, Vera, die Musik, die ich spiele, ist in erster Linie und jedesmal diesen Menschen gewidmet, die von diesem Terror ergriffen, getötet oder zu Krüppeln geschlagen wurden.” Vera: “Nun versteh ich Sie viel besser. Ich verstehe, warum die Musik für Sie so wichtig ist. Sie ist das Medium, um den Menschen nicht nur in die Köpfe, sondern in ihre Herzen zu reden und den Kontakt zum Menschen zu halten, auch dann, wenn er getötet wurde.” Boris: “So können Sie es sehen. Da sehen Sie in die richtige Richtung. Die Botschaft, die ich zu bringen habe, begnügt sich nicht mit der Oberfläche, lässt sich von ihr nicht aufhalten, sondern zielt in die Tiefe. In die Tiefe der Herzen soll die Botschaft gehn. Wie sonst sollten sich die Menschen bessern, sind sie noch ansprechbar oder wachzurütteln, das Gute zu tun und das Böse zu lassen?!” Vera: “Ich verstehe, Boris Baródin, Sie sind ein Missionar, der die Menschen durch ihre Musik zur Umkehr bekehren will.” Boris: “Das Problem ist die fehlende Kommunikation unter den Menschen. Dazu kommt der eiskalte Materialismus, bei dem nur das Geld zählt. Die Jugend in Deutschland fühlt sich von der älteren Generation unverstanden.
Die Maßstäbe der guten Erziehung sind abgebrochen, verstümmelt; die guten Sitten sind verkommen. In der Gesellschaft sind Ordnung, Respekt vor dem Mitmenschen und der Wille zur Nächstenhilfe verlorengegangen. Das Laissez-faire der Gleichgültigkeit und das Drogenproblem haben überhand genommen. Ist das in Polen auch so?” Vera: “Es hat auch hier begonnen. Auch hier ist der Materialismus in die polnischen Köpfe eingezogen. Auch hier ist es zu spüren, wie sich die Jugend von der älteren Generation absetzt und ihre eigenen Wege gehen will. Auch hier gerät die Gesellschaft aus den Fugen der guten Sitten. Die jungen beklagen, von den alten nicht verstanden zu werden; die alten halten der Jugend die zunehmende Respektlosigkeit und Unwilligkeit beim Lernen vor. Boris, hier ist nicht alles gut, was für den ersten Augenblick glänzt. Für mich als junge Frau kommen dann noch die Frechheiten hinzu, die sich Männer den Frauen gegenüber herausnehmen. Das hat es früher, in den ersten Jahren nach dem Kriege nicht gegeben, als alle Hand in Hand gearbeitet haben, das verwüstete Polen wieder aufzubauen, aus den Ruinen wieder ansehnliche Städte zu errichten. Da gab es den Respekt vor dem anderen Menschen noch; da galt das Wort der Alten viel, und die Jugend hörte auf die Eltern und befolgte ihren Rat. Das hat sich mit dem aufkommenden Wohlstand geändert. Nun meint jeder, er könne es besser als der andere, der jüngere besser als der Alte.” Boris: “Dann gibt es auch hier das Drogenproblem.” Vera: “Das gibt es in der Tat. Das Rauschgift kommt aus Kasachstan und Turkmenistan und nimmt den weiten Weg über die transsibirische Eisenbahn bis nach Moskau oder die Krim, von wo es per Schiff oder Laster nach Polen kommt.” Boris: “Den Menschen in Deutschland ist mit dem Wohlstand das Lachen vergangen. Auf den Straßen gehen sie grußlos aneinander vorüber. Sie sind hektisch geworden, kümmern sich nicht um den andern, der durch’s Betteln sein Leben fristet. Auch in Deutschland gibt es die Straßenkinder, die unter den Brücken mit den Trinkern und in leerstehenden Altbauten übernachten, die vor dem Abbruch stehen, um neuen Verwaltungs- und Mietshäusern, nennen Sie die Kolossbauten auch Mietskasernen, Platz zu machen.
Vera: “Es gibt staatliche Einrichtungen, um diesen Menschen zu helfen. Vor allem ist es die Kirche, die sich der Obdachlosen und Waisenkinder angenommen hat, ihnen eine warme Mahlzeit pro Tag und eine Schlafstelle gibt. Doch reichen diese Einrichtungen nicht aus.” Boris: “Dann frisst in Polen der Sozialismus seine Kinder.” Vera: “Und das im gesamten Ostblock. Können Sie sich vorstellen, wie das erst in der Sowjetunion ist, ich meine in Moskau, Leningrad, der ukrainischen oder weißrussischen Republik? Die Menschen sind dort noch ärmer als hier in Polen. Dort im Osten hat der Staat den Kirchen das Schweigen verordnet. Da schweigen die Kirchen zu diesem Problem, gibt es keine Predigt wie hier in Warschau, die zur tätigen Nächstenliebe aufruft.” Boris: “Vera, mit der Kirche fassen Sie ein heißes Eisen an. Mein Großvater, Eckhard Hieronymus Dorfbrunner, war bis zur Flucht mit der Großmutter und meiner Mutter aus Schlesien Superintendent in Breslau. Er hat erzählt, wie trotz seiner Predigten mit der Botschaft zur tätigen Nächstenliebe, er soll ein wortgewaltiger Prediger gewesen sein, die Juden, Sozialisten und andere Systemkritiker von den Nazis aus ihren Häusern und Wohnungen gezerrt und geprügelt wurden. Er erzählte, wie zweimal in der Woche voll gepackte Güterzüge durch Breslau in den Osten fuhren, in denen Juden mit ihren Familien bis zu den Babys in die Vernichtungslager von Treblinka und Auschwitz-Birkenau transportiert wurden. Mein Großvater bekam Tränen, wenn er davon und vom Versagen der Kirche, dem Opportunismus der Bischöfe und der allgemeinen Ignoranz mit dem Wegsehen der Menschen sprach.”
Sie gingen die Allee des Widerstand herunter. Vera fasste Boris’ Hand, der die Weichheit ihrer Hand fühlte. Sie hatte eine schmale, schön ausgezogene Hand mit schmalen, langen Finger, eine Hand, die zum Klavierspielen prädestiniert war. Boris: “Vera, wissen Sie, dass Sie die erste Frau sind, der ich die Hand halte, ich meine, der ich zubillige, ihre Hand in meine zu tun.” Vera lachte: “Dabei dürften Sie sich vor Frauenhänden nicht retten können. Dabei möchte jede Frau ihre Hand in die Hand eines berühmten Pianisten geben.” Nun lachte auch Boris: “Aber bei mir sind Sie die erste, die das ohne meinen Widerstand tut.” Vera: “Ihre Hand zu spüren, mit der Chopin und Brahms gespielt wird, ist mir ein großes, unvergleichliches Erlebnis. Ihre Hand ist für eine Männerhand weich und feingliedrig. Es ist eine ganz besondere Hand, die ich nicht mehr loslassen wollte, wenn ich es könnte.” Boris: “Sie haben auch eine schöne und weiche Hand, die sich vielversprechend anfühlt. Haben Sie mal ein Instrument gespielt?” Beide bildeten ein schönes Paar, dem die Entgegenkommenden mit neugierig großen Augen entgegensahen und sich nach dem Vorübergehen nach ihm umdrehte. Hinzu kam die deutsche Sprache. Wenn sie von den Passanten gehört wurde, war sie doch für Warschauer Cafés und Straßen die seltene Ausnahme. Das wusste Boris auch, dass nach dem Krieg die deutsche Sprache in Polen nicht gern gehört, geschweige denn gesprochen wurde. Das hatte mit dem harten Deutsch der Nazis und der SS zu tun, mit der die Polen gedemütigt und gefoltert wurden. Auch wenn die Polen die deutsche Sprache beherrschten, sprachen sie im Nachkriegsexil in der Bundesrepublik Deutschland französisch oder englisch, alles andere nur nicht deutsch. Vera: “Ich wollte immer gern Klavier spielen. Doch dazu kam es seit dem Tode meines Vater nicht mehr. Wie schon gesagt, ich hatte für die Familie zu sorgen und das Geld für den Unterhalt zu beschaffen.” Boris: “Wenn ich ihnen auf dem Klavier etwas zeige, würden Sie das auch annehmen wollen?” Vera: “Das Wollen ist das kleinere Problem, ich meine, das ist überhaupt kein Problem. Das Problem, was das größere sein wird, ist das Können.” Boris: “Das wird sich herausstellen, wenn ich ihnen die ersten Schritte auf dem Klavier zeige.” Vera: “Das kann ich einem Pianisten, wie es Boris Baródin ist, nicht zumuten, sich mit so kleinen, ungelernten Leuten abzugeben.” Boris: “Vera, Sie erinnern sich an den Freiraum bezüglich der Erfüllung des Glücks in unserem Gespräch.” Vera: “Soll das heißen, dass Sie mich lieben?” Boris: “Ich sagte ihnen, dass Sie ein Feuer in mir entzündet haben, dass es mir ganz heiß geworden ist. Vera, Sie sind die erste Frau, der ich das Angebot mit dem Klavier mache, weil Sie die erste Frau sind, der ich die Hand halte, weil ich Sie liebe. Und nun sage ich es ihnen auch.” Vera drückte seine Hand und gab ihm den zweiten Kuss auf die Wange. Dabei scheute sie vor den neugierig schauenden Passanten nicht zurück. Sie musste ihn küssen, weil sie für dieses “Statement” der Liebe so schnell keine Worte fand. Boris legte seinen Arm um ihre Schulter, und sie gingen aneinander geschmiegt die Straßen weiter. Der Druck des rhythmischen Ausladens ihrer Hüfte beim Gang gegen seinen Oberschenkel erweckte in ihm erotische Empfindungen, die für ihn bislang unbekannt waren. “Auch das ist das erste Mal, dass ich den Gang einer jungen Frau so reizvoll empfinde”, sagte er zu sich, während er auf die wunderbare Natürlichkeit des Schrittes ihrer Beine sah.
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