„Was soll das?“, fragte Kasib schneidend. Alle Unsicherheit war von ihm gefallen. Mit einer Situation wie dieser, hatte er gelernt umzugehen. „Wenn es noch immer um deinen Drink geht, dann zahl‘ ich dir einen neuen und der Fall ist erledigt“, versuchte er die Lage zu deeskalieren. Doch er erkannte in den Augen des anderen, dass seinem Gegenüber nicht an einer friedlichen Lösung gelegen war. Der glasige Blick verriet zudem, dass der Geruch nach Alkohol nicht nur von dessen Jackett kam. Offenbar hatte er die letzte Stunde damit verbracht, noch reichlich mehr von dem in Kasibs Augen übelriechenden Getränk in sich hineinzugießen.
„Wie kommt so ein Loser wie du zu so einer schönen Frau?“, lallte der Fremde. Auf Kasibs Vorschlag ging er gar nicht weiter ein. „Also keine friedliche Lösung“, dachte sich der Tarmane und musterte seinen Gegner von oben bis unten. Ihm wurde klar, dass dieser durchaus Kampferfahrung haben musste, denn trotz des Alkohols tänzelte er wie ein Boxer von einem Fuß auf den anderen. Da die beiden Begleiter des Fremden dicht hinter ihm standen, um im Zweifelsfalle sofort für ihren „Anführer“ eingreifen zu können, war die Lage mit drei zu eins nicht ganz ohne. Sie unterstrichen ihre Solidarität schon jetzt mit bissigen Bemerkungen wie „Der Typ hat doch Angst vor seinem eigenen Schatten“ und „Schaut euch mal den Feigling an.“
Die Sprüche brachten den Tarmanen jedoch nicht aus dem Gleichgewicht. Cool ignorierte Kasib sie und analysierte weiter seine Lage. Er bezweifelte, dass einer der Männer aus seiner Gruppe ihm beistehen würde. Die sahen nicht aus, als wären sie in ihrem Leben schon einmal in einen Kampf verwickelt gewesen und würden sich eher ganz schnell aus dem Staub machen. „Oder sie sehen sogar noch gehässig zu, wie die drei dich fertig machen“, sagte Kasib sich.
„Was soll das?“, fauchte Claudia in diesem Moment wütend von der Seite. Mit ihr hatte Kasib nun überhaupt nicht gerechnet. Mutig sprang die Engländerin nach vorne und stieß den großen Angreifer mit beiden Händen vor die Brust. Allerdings ohne wirklich damit Erfolg zu haben.
„Schau mal, unser Held braucht eine Frau, um sich zu verteidigen“, kommentierte johlend einer der Begleiter des Fremden. Der fand die unerwartete Attacke anscheinend überhaupt nicht komisch und holte aus, um Claudia zu ohrfeigen. Vermutlich hätte er sie voll erwischt, wenn nicht Kasib in diesem Moment die Initiative ergriffen hätte. Er sprang nach vorne, um vor Claudia zu gelangen. Mit seinem rechten Unterarm fing er den Schlag des Angreifers ab, was diesen ein wenig aus dem Gleichgewicht brachte. Dann duckte er sich nach unten und fegte mit seinem linken Bein in einer kreisförmigen Bewegung über den Boden. Mit voller Wucht krachte sein Schienbein in die Kniekehlen des Gegners. Ein weiterer kleiner Schubs war völlig ausreichend, und der Fremde fand sich rücklings auf dem Boden der Tanzfläche wieder während Kasib wieder cool dastand, wo er vorher gestanden hatte, fast so, als hätte er sich nie bewegt. Kasibs Bewegungen waren dabei so schnell und elegant gewesen, dass einige der umstehenden Gäste begeistert applaudierten. Doch der zweite Mann der Truppe sah sich nun genötigt, die Schmach seines Freundes auszumerzen. Mit einem Wutschrei stürzte er sich auf Kasib, oder vielmehr versuchte er das. Der Tarmane drehte sich nach rechts und wich einen halben Schritt zur Seite. Dabei war er so schnell, dass der andere dagegen wie ein tapsiger Bär wirkte. Er prallte mit voller Wucht gegen einen der Umstehenden und hielt sich stöhnend den Kopf. Wieder applaudierten die Zuschauer begeistert. Inzwischen hatte sich der Boxer vom Boden wieder aufgerappelt und führte einen Schwinger gegen Kasib. Mühelos fing dieser ihn ab, genauso wie die Linke, die sein Gegner als nächstes abfeuerte. Er grinste breit, denn nun war er in seinem Element. Der kurze Austausch hatte ihm völlig gereicht, um zu erkennen, dass die beiden vielleicht einen unerfahrenen Clubbesucher beeindrucken konnten. Doch gegen einen Mann, der sein ganzes bisheriges Leben mit Kampftraining verbracht hatte, waren sie wie kleine Jungen, die sich austoben wollten. Der Fremde versuchte noch einige weitere Schläge, doch jeden einzelnen fing Kasib ab, ohne selbst ein einziges Mal zurückzuschlagen. Es wäre ihm ein Leichtes gewesen, seinen Gegner auszuschalten. Doch hatte er Angst, den Mann zu verletzen. Also ließ er ihn sich erst einmal ein wenig abreagieren. Erst als er relativ gefahrlos an den immer langsamer werdenden „Boxer“ herankam, machte er einen schnellen Schritt nach vorne, griff an dessen Hals und drückte auf eine bestimmte Stelle an dessen Schlagader. Zwei Sekunden genügten, und der Fremde sackte ohne einen weiteren Laut in sich zusammen.
„Jetzt packt euren Freund und schaut, dass ihr wegkommt“, grollte er die beiden Kumpane an, die voller Entsetzen auf ihren bewusstlosen Freund starrten. Der eine hielt sich noch immer theatralisch seine Stirn, wo er den Zuschauer gerammt hatte. Unsicher wechselten die beiden einen Blick. „Schon gut!“, versicherte der andere, der sich auf die bissigen Kommentare beschränkt hatte. Schnell hakten sie auf jeder Seite ihren „Anführer“ unter und eilten so schnell sie vermochten in Richtung Ausgang. Dort wurden sie erst einmal von den beiden Sicherheitsmännern des Clubs aufgehalten, die sie wütend zur Rede stellten. Die Auseinandersetzung war so schnell vorüber gewesen, dass die schwergewichtigen Männer am Eingang noch gar nicht richtig gemerkt hatten, dass etwas vorgefallen war.
Besorgt sah sich Kasib nach Claudia um, die in diesem Moment strahlend auf ihn zueilte. „Wow“, rief sie aus. „Wo hast du denn gelernt, so zu kämpfen?“, fragte sie weiter. Dann fiel sie ihm um den Hals. Ganz plötzlich war ihr Mund auf dem seinen und sie küssten sich.
Anfang Mai 2016 - Alessia: Rayans Haus - Wiedersehen in einer anderen Welt
Ganz wie zu erwarten gewesen war, war der hinter der Tür liegende Raum - Rayans Büro, in das man ihn zur Unterredung mit seinem Schwager zitiert hatte - leer. Also nahm Alex sich Zeit, das Büro in Ruhe in Augenschein zu nehmen. Eigentlich war es mehr eine Bibliothek, denn zwei Wände waren von oben bis unten mit Bücherregalen bedeckt.
Die beiden anderen Wände boten ob der großen Fenster nicht viel Platz für Schränke oder Ähnliches. Durch die großen Glasflächen flutete das Sonnenlicht herein, was den Raum in ein freundliches Licht tauchte. Weil sowohl der Boden, als auch der wuchtige Schreibtisch aus einem schweren, dunklen Holz waren, tat es der Atmosphäre des Raumes gut, dass man bunte Teppiche verteilt hatte, die weitere Farbakzente setzten.
Insgesamt ein Zimmer, das Alex sofort mochte. Als der Deutsche hörte, wie hinter ihm die Türe geöffnet wurde, drehte er sich um. Sein Schwager Rayan kam mit einem freundlichen Lächeln auf ihn zu. Zu seiner Erleichterung hatte sich die Aufmachung des Scheichs im Vergleich zu seinem Auftritt vorhin gewandelt. Zwar noch immer in traditionelle Robe gehüllt, aber frisch rasiert und geduscht, das Haar kurz geschnitten, machte er einen zivilisierten Eindruck. Er trug ein Gewand in royalem Blau, das mit seinen goldenen Applikationen an Hals und Ärmeln schlichte Eleganz vermittelte. Aber trotz dieser kultivierten Erscheinung konnte er die Exotik einer anderen Kultur nicht verleugnen. Sein Blick und die Art wie er ging, drückten den ganzen Stolz seines Volkes aus. Es war, als wenn seine Präsenz auf einmal den ganzen Raum ausfüllte und auch wenn er schlichtere Kleider angehabt hätte, würde man keinen Zweifel hegen, dass er der geborene Anführer war. So bewegte sich nur ein Mann, der es gewohnt war, Befehle zu erteilen und über andere zu herrschen. Wie hatte Alex sich in München von der westlichen Kleidung so täuschen lassen können? Auch wenn Rayan sich in Deutschland hervorragend angepasst hatte, so war es doch nur eine Art Tarnung gewesen. Es kam Alex vor, als sehe er seinen Schwager zum ersten Mal. Der Deutsche ließ sich durch Funktionen, Namen oder Titel normalerweise wenig beeindrucken, meistens spürte er eine ungesunde Neigung, genau diese Leute herauszufordern. Aber nun fühlte er sich verunsichert. Mit einem Mal war ihm klar, wieso selbst Militärs, wie der grimmige General am Flughafen, ganz selbstverständlich das taten, was der Scheich verlangte.
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